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Michael Kleine-Cosack: Marianne Birthlers Staat im Staat - Republik freies Aktenland

 

Marko Martin: Jürgen Fuchs und die Stasi-Paranoia

  Blender aus der DDR: Ex-Rechtsradikaler erfand Stasi-Stasihorrorstory

 

Erkenntnisse über Journalisten und westliche Nachrichtendienste

 

Materialien zum Militärischen Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee

 

Pfarrer Eppelmann (CDU), letzter DDR-Verteidigungsminister, über den NVA-Nachrichtendienst

 

Martin Walser über innerdeutsche Spionage


Republik freies Aktenland

Marianne Birthlers Staat im Staat

Von Michael Kleine-Cosack

Der Rechtsstaat scheint nach wie vor auf verlorenem Posten zu stehen, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit des untergegangenen DDR-Regimes geht. Zahlreiche Attacken haben ihm nach 1989 Wunden geschlagen, von denen er sich bis heute kaum erholt hat. Zahllose bis zur Wende eigentlich selbstverständliche Errungenschaften der durch das Grundgesetz konstituierten rechtsstaatlichen Ordnung schienen im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung vorübergehend außer Kraft gesetzt worden zu sein. Erinnert sei nur an die Säuberung des öffentlichen Dienstes, an die Eingriffe in das Rentensystem bei Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die Überdehnung des Rechtsbeugungstatbestandes zu Lasten von Richtern und Staatsanwälten der DDR, die Einschränkung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots und die vom Bundesverfassungsgericht weitgehend für unzulässig erklärten Berufsverbote gegen Rechtsanwälte und Notare. Als besonderer Pfahl im Fleische des Rechtsstaats hat sich die nach dem früheren Bundesbeauftragten benannte Gauck-Behörde erwiesen.

Für ihre Leiterin und deren Anhänger - vor allem bei Bündnis 90/Die Grünen und der schon seit 1990 zur Bedeutungslosigkeit verdammten Bürgerrechtsbewegung - soll auch im Jahre 2001 offenbar noch ein rechtsstaatsfreier Sonderstatus gelten. Der Streit zwischen Birthler und Bundesinnenminister Otto Schily erweckt den Eindruck, daß die Birthler-Behörde die einzige deutsche Behörde ist, die mit Unterstützung der Politik frei von gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Bindungen agieren darf. Auf dem Altar der Aufarbeitung des MfS wird der Rechtsstaat geopfert. Schon Hinweise auf eigentlich selbstverständliche Bindungen an Gesetz und Recht werden von den Anhängern der Aufarbeitung empört zurückgewiesen. Statt objektiv und vor allem rechtsstaatlich zu argumentieren, wird von einer "Demütigung" der Bundesbeauftragten durch den herzlosen Innenminister gesprochen, der sich - so Rezzo Schlauch - wie ein Schulmeister gegenüber einem Schulmädchen verhalte.

Keine Gleichheit im Unrecht

Man muß sich verwundert die Augen reiben, mit welchen Argumenten nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin die Gauck-Behörde und ihre Sympathisanten in Presse und Politik die bisherige Publikationspraxis verteidigen und die Bundesbeauftragte in ihrem Bestreben unterstützen, sie entgegen der Aufforderung von Schily fortzusetzen. Dieses Verhalten ist bereits deshalb unverständlich, weil die von Frau Birthler geleitete Behörde die umstrittene Praxis eigentlich schon vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts hätte einstellen müssen - bis zu einer höchstrichterlichen Klärung. Schließlich kam die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht aus heiterem Himmel. Überrascht sein konnte nur, wer, wie Joachim Gauck, die von kompetenter Seite bis hin zum früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, geübte Kritik an der Publikationspraxis beharrlich nicht zur Kenntnis nahm. Sie wurde ebenso negiert wie Entscheidungen anderer Gerichte, die eine Herausgabe von Akten für unzulässig erklärten. Als Beispiel sei nur auf das Urteil des Landgerichts Kiel im Fall Engholm verwiesen; es beanstandete die Herausgabe der Akten an den Barschel-Untersuchungsausschuß. Die im Vorfeld des Kohl-Verfahrens geäußerten Bedenken waren auch entscheidend für die Haltung des Deutschen Bundestages, auf die Herausgabe der von Gauck bereitwillig angebotenen Akten im Parteispendenuntersuchungsausschuß zu verzichten, da sie unter massiver Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Helmut Kohl zustande gekommen waren.

All diese Bedenken haben die Gauck-Behörde unbeeindruckt gelassen. So läuft der Deutsche Bundestag Gefahr, daß sein Beschluß gegen die Anforderung der Akten kurzerhand unterlaufen wird durch deren Herausgabe an Journalisten oder Historiker. Ungeachtet aller Bedenken setzte die Gauck-Behörde ihre Publikationspraxis fort. Eines ihrer zentralen Argumente vor dem Verwaltungsgericht im Fall Kohl war tatsächlich der Hinweis, man habe schließlich schon seit Jahren Akten von Prominenten publiziert; daher könne es doch auch bei Kohl kein Unrecht sein. So konnte in der Tat zum Beispiel der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt den Inhalt seiner Opferakte der Zeitung entnehmen. Was aber in der Vergangenheit nicht beanstandet worden war, konnte nach Ansicht der Bundesbeauftragten doch nunmehr nicht rechtswidrig sein.

Welch ein getrübtes Rechtsstaatsbewußtsein kommt in dieser Haltung zum Ausdruck. Allen Ernstes wird dafür plädiert, den im Grundgesetz statuierten Vorrang des Gesetzes, der alle staatlichen Behörden bindet, zugunsten eines rechtsstaatsfremden Prinzips der Tradition zu mißachten. Die Gauck-Behörde nimmt für sich das Recht in Anspruch, durch eine gesetzwidrige Praxis geltendes Recht außer Kraft zu setzen. Dabei lernt ein Student der Rechtswissenschaften bereits im ersten Semester, daß es keine Gleichheit im Unrecht gibt; nicht einmal durch eine langjährige Mißachtung kann man Gesetze "aushebeln".

Aus dem gleichen Grund völlig verfehlt ist das von den Verteidigern der Birthler-Praxis angeführte Argument, was man den Ostdeutschen - wie eben Höppner - angetan habe, müßten nun auch Westdeutsche erdulden. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes mit seiner Bindung an das für jedermann geltende Gesetz aber verbietet schon grundsätzlich jede Differenzierung nach Heimat und Herkunft. Im übrigen hat Katarina Witt, die ehemalige "Eiskönigin" der DDR, mit ihrer Klage gegen die Gauck-Behörde dem Versuch den Boden entzogen, die Publikationspraxis mit dem politisch vordergründigen Argument zu rechtfertigen, der Westdeutsche Kohl müsse ebenso wie die Ostdeutschen behandelt werden. Katarina Witt stammt aus dem Osten und ist dennoch nicht an der Publikation ihrer Opferakte interessiert; das hat die Öffentlichkeit zu respektieren.

Auch für die Gauck-Behörde müssen die Grundrechtsmaßstäbe gelten, die vor allem vom Bundesverfassungsgericht bei anderen Personen der Zeitgeschichte nach Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Presse- beziehungsweise Wissenschaftsfreiheit aufgestellt worden sind. Es ist kein sachlicher Grund zu erkennen, einerseits bei einer Prominenten wie Caroline von Monaco im Hinblick auf hinzunehmende Eingriffe in die Privatsphäre genau zu differenzieren, ob sie von Paparazzi mit ihrem Ehemann auf der Straße, in einem Gartenlokal oder gar im Bett "erwischt" wird, hingegen bei Eingriffen des MfS nahezu jeden Persönlichkeitsschutz zu verweigern. Die in diese Richtung gehende Argumentation von Gauck, man habe beim Stasi-Unterlagengesetz die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen nicht derart "hoch hängen" können, daß der Aufklärungserfolg gefährdet worden wäre, ist rechtsstaatlich ebenso abwegig wie sein Diskreditierungsversuch, Kohl habe sich mit seiner Klage "praktisch mit der PDS verbündet".

Hätte also die Gauck-Behörde angesichts der massiven Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit ihrer Publikationspraxis diese eigentlich schon vor Verkündung des Urteils des Berliner Verwaltungsgerichts einstellen müssen, so gilt dies erst recht, nachdem die Berliner Richter sie für rechtswidrig erklärt haben. Gewiß ist das Urteil noch nicht rechtskräftig; es kann noch mit Rechtsmitteln angefochten werden. Keine andere Behörde in Deutschland jedoch würde wie Frau Birthler auf den Gedanken kommen, deshalb die bisherige Behördenpraxis nicht zunächst bis zur Rechtskraft der Entscheidung zu ändern, wie es Otto Schily jetzt zu Recht fordert. Denn wird schließlich das erstinstanzliche Urteil höchstrichterlich bestätigt, dann erweist sich die Fortsetzung der Praxis in anderen Fällen ebenfalls als rechtswidrig. Dieses Risiko gehen rechtsstaatsbewußte Behörden nicht ein, zumal sie Gefahr laufen, sich der Rechtsbeugung schuldig zu machen. Diese Maxime will die Bundesbeauftragte für ihr Haus nicht gelten lassen. Sie nimmt ungeniert weitere mögliche Rechtsbrüche in Kauf. Überspitzt formuliert: Hätte man der Behörde nach 1990 zur Vergangenheitsbewältigung eine Guillotine zur Verfügung gestellt, dann würden bei Frau Birthler zumindest bis zur höchstrichterlichen Bestätigung der Verfassungswidrigkeit dieser Praxis auch weiterhin die Köpfe rollen.

In dem durch Uneinsichtigkeit geprägten rechtsstaatlichen Bocksgesang findet sich auch das Argument der Bundesbeauftragten, das Berliner Verwaltungsgericht habe nur den Fall Kohl, nicht aber über die Rechtmäßigkeit der Aktenpublikation bei anderen Personen entschieden. In der Tat wirkt die Entscheidung des Gerichts nur inter partes, also zwischen den Beteiligten des Verfahrens; eine unmittelbare rechtliche Bedeutung für Dritte kommt ihm nicht zu. Auch dieses Argument rechtfertigt jedoch nicht die Fortsetzung einer möglicherweise rechtswidrigen Behördenpraxis: Schließlich kennt die Rechtsordnung nur wenige Fälle, in denen mit Wirkung für jedermann entschieden wird; im Regelfall wird über die Rechtmäßigkeit einer Behördenpraxis nur inzidenter im Rahmen von Einzelfällen entschieden. Es steht aber bei rechtsstaatlich orientierten Behörden außer Frage, daß Entscheidungen im Einzelfall zum Anlaß genommen werden, die von einem Gericht beanstandete Praxis allgemein zu ändern.

Blinde Publikationswut

Birthler steht mit ihrer gegenteiligen Ansicht auf verlorenem Posten. Ihr Wille, trotz der Bedenken des Verwaltungsgerichts weiterzumachen wie bisher, zwingt andere von Publikationen der Gauck-Behörde betroffene prominente Opfer wie Katarina Witt, ebenfalls den Rechtsweg zu beschreiten. Nur wer sich wehrt, bekommt - oder genauer: behält sein Recht. Wer, wie dies Bürger üblicherweise in einem Rechtsstaat tun dürfen, auf die Beachtung von Gesetz und Recht von Amts wegen vertraut, der ist bei der Sonderbehörde der Bundesbeauftragten verraten und verkauft. Sie läßt die Bürger im rechtsstaatlichen Regen stehen und zwingt sie vor Gericht. Anstatt Prozesse zu vermeiden, werden die Gerichte mit Verfahren belastet.

Eine höchstrichterliche Klärung der Rechtslage ist unverzichtbar. Dem in der Vergangenheit praktizierten Grundrechtsleerlauf bei der Publikation von Akten des MfS muß endlich ein rechtsstaatlicher Riegel vorgeschoben werden. Den Grundrechten - insbesondere dem verfassungsrechtlich verbürgten Persönlichkeitsrecht - ist auch im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung Rechnung zu tragen. Es darf nicht sein, daß die durch rechtsstaatswidrige Bespitzelung des MfS ohnehin in ihrem Persönlichkeitsrecht beschädigten Opfer durch die rechtsblinde Publikationswut der Gauck-Behörde weitere Rechtseingriffe hinnehmen müssen. Der Bundesbeauftragten ist es ohnehin zumutbar, entsprechend der üblichen Behördenpraxis in vergleichbaren Fällen bis zur letztinstanzlichen Entscheidung abzuwarten. Von ihren Publikationen sind schließlich keine nennenswerten neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten. Die letzten Jahre haben bis in die jüngste Zeit immer wieder deutlich gezeigt, daß allenfalls noch mit weiteren Bloßstellungen und Denunziationen zu rechnen ist. Die Reputation der Gauck-Behörde beruht vorrangig auf einer Dämonisierung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Der damit verbundenen Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien muß endlich ein Ende bereitet werden, indem auch im Hause von Frau Birthler mit Schilys Hilfe das Grundgesetz vom Kopf auf die Füße gestellt wird.

Der Autor ist Rechtsanwalt in Freiburg/Breisgau,
aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.2001, Nr. 158 / Seite 43


Stasi-Paranoia

Am Beispiel des Magdalena-Buchs von Jürgen Fuchs

In der renommierten Zeitschrift "Kommune" (Heft 4/1998) findet man eine Auseinandersetzung mit J. Fuchs, verfaßt von Marko Martin (1988 in der DDR aus politischen Gründen zum Hilfsarbeiter gemacht und nach einem Besuch bei Stefan Heym auch vom MfS überwacht) - hier leicht gekürzt dokumentiert:

Fuchs' neues Buch, das keineswegs ein "Roman" ist, sondern ein konfuser, grummelnder Dauer-Monolog, langerwartet, ist nichts als eine einzige Enttäuschung. Die Antwort auf das nivellierende Dauer-Witzeln gerann nur, wahrscheinlich darin sehr osttypisch, zum sauertöpfischen Dauer-Lamento, das sich durch seine Larmoyanz selbst ins Abseits katapultiert. Von soziologischem Interesse könnte es dennoch sein, zeigt es doch par excellence, wie eine im Osten geschulte Ästhetik des Widerstands vor der unendlich komplexeren West-Wirklichkeit kapitulieren muß und damit zur Karikatur ihrer selbst wird.

Jürgen Fuchs, vor den ehemaligen Stasi-Gebäuden in der Ostberliner Ruschestraße: ",DR` ist zu lesen, Deutsche Reichsbahn, dann ,DB`, Deutsche Bahn ... Nur ein Buchstabe muß geändert werden! Deutsche Beamte wollt ihr sein und bleiben, Deutsche Wärter, Deutsche Dienstgrade, Deutsche Vorgesetzte und Vorzimmerdamen ... Wichtig und korrekt gekleidet, gesichert und anerkannt vom jeweiligen Staat, brav und scharf oder milde, wenn die Zeiten so sind ... Is was? Nee!" Die Anklage deutscher Kontinuität, die Zurückverwandlung des Schergen in den Spießer - ist das nicht in der Tat ein großes Thema? Allerdings. Nur wird bei Fuchs alles zu fast hysterischem Pathos, eifernder Rhetorik, und - das Buch hat knapp 500 Seiten - mit von Mal zu Mal unerträglicher werdender Suggestivfragen.

Wer schweres Geschütz auffährt, sollte genau sein: Woher weiß Fuchs etwa, daß die braven Bahner ehemalige MfSler sind, woher kommt dieser Generalverdacht gegenüber jeglicher Institutionalisierung und bürgerlichen Existenzform? Der Aufklärer sitzt hier auf einmal in einer recht deutschen Falle: Ein Amt ist ein Amt ist ein Amt, die Sesselfurzer bescheißen uns alle, Krawattenträger sind durch die Bank weg krumme Hunde. Statt am konkreten Fall weiterwirkende Mentalitäten zu beschreiben, das Fortwirken alter autoritärer Muster, blafft Jürgen Fuchs wie der populistische Mann von der Straße schräg nach oben und wittert dort überall, wenn nicht schon Verbrechen, so dann doch zumindest Karrierismus und Wortbrüchigkeit. Der Haken dabei ist nur, daß man mit derlei ungewollt die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie einebnet und die bürokratisch-unsensiblen Stasiaktenverwalter von heute flugs mit den perfiden Stasiaktenverfassern von einst gleichsetzt. Daß Jürgen Fuchs auch noch nach zwanzig Westjahren seinen provinziellen Habitus nicht abgelegt hat und die Realität in der Bundesrepublik nicht wahrzunehmen in der Lage ist, sollte man ihm nicht vorwerfen; die deutsche Kultur wimmelt nur so von Waldschraten und sich selbst marginalisierenden Zauseln, für die jede Ironie schon eine Täter-Strategie ist, um ihnen ihr Leben zu entwerten.

An einer Stelle seines Buches heißt es: "Der verfluchte Augenblick der moralischen Überlegenheit". Eine schöne Formulierung, die noch besser würde, wäre sie beherzigt worden.

Ein anderes Beispiel: Jürgen Fuchs steht vor der ehemaligen Haftanstalt und wird nicht hineingelassen. Eine Bescheinigung vom Senat, einen Passierschein brauche man, knurrt das Wachpersonal und läßt sich auch durch Fuchs' Erwiderung, daß er hier doch früher Häftling war, nicht erweichen.

Wer nun auch nur etwas Herz hat, wird mit Jürgen Fuchs mitfühlen. Wer zynisch ist, bemerkt achselzuckend, daß es eben keine Gerechtigkeit in der Geschichte gibt. Wer in seinem Politikwissenschafts-Seminar aufgepaßt hat, wird entgegnen, daß das Wachpersonal sehr gut daran tat, jemanden ohne Passierschein nicht einzulassen, da sich die liberale Demokratie ja gerade durch die Einhaltung der für alle geltenden Regeln definiert.

Wer nun ein guter Schriftsteller wäre, könnte dies alles zusammendenken, über die schmerzliche Inkompatibilität all dieser drei Wahrheiten nachdenken und beim Leser eine fortwirkende, produktive Beunruhigung hinterlassen.

Jürgen Fuchs' Reaktion ist leider wiederum simpelste Hausmannskost: Die Hände des Wachpersonals, die auf Knöpfe drücken, sind das nicht ... Wir ahnen, wie es weitergeht, verstehen die Zulässigkeit dieser Reflexion und sind doch nur angeödet von ihrer dauernden Dominanz.

Jürgen Fuchs schließlich beim Radio-Hören, Jürgen Fuchs in der Einkaufspassage oder auf der Frankfurter Buchmesse; es ist stets das gleiche Lied. Die Täter des Ostens everywhere und dazwischen die klugen, doofen, sanften, schrillen West-Stimmen, die wieder einmal nix kapieren. Hätte Fuchs in seinen zwanzig Westjahren auch nur einmal die volkseigenen Tomaten von den Augen genommen, wüßte er, daß genau dies die Demokratie ausmacht, ein dauerndes Gewusel und Gedrängel, in dem niemand richtig untergeht, aber auch niemand wirklich ernsthaft wahrgenommen wird, eine Gesellschaft, in der es ununterbrochen lärmt.

"Viele wollen unsere Erfahrungen nicht wahrnehmen", klagt der Autor. Na und, möchte man da fast schnippisch antworten. Wer will schon irgendwelche Erfahrungen wahrnehmen? Trotzdem muß man es versuchen, immer und immer wieder, ein listiges Eichhörnchen im Dschungel der Postmoderne. Wahrscheinlich aber gab es im Vogtland keine Eichhörnchen. Regelrecht paranoid wird es dann, wenn Jürgen Fuchs auf der Frankfurter Buchmesse den lauten Eitelkeits-Trubel beklagt und allen Ernstes schreibt: "Oh, ihr flotten, schlauen Kommentare! Ihr wollt uns besiegen und immer im Trend liegen, gut gekleidet, gut formuliert."

Imre Kertész, der Auschwitz und Buchenwald überlebte und in beeindruckenden Büchern von seinen Traumata Zeugnis gab, brachte das Problem einmal hervorragend auf den Punkt: "Osten und Westen, der neurotische und der normale Typ. Neurose: die ständig regressive Wiederholung eines traumatischen Erlebnisses in Form stets gleichbleibender Symptome, bis in alle Ewigkeit, das heißt bis zum Tod. Normal: traumatische Störung, darauf die bewußte Aufarbeitung des Traumas, die Schaffung rationaler Garantien zur Vermeidung der Regression, des Rückfalls in die Symptome. Das eine ein Höllenerlebnis: das stets erneute Durchleben von Krankheitszuständen ohne Ende und ohne Ausweg; das andere: Katharsis, Weg der vollen Entfaltung und eines tragischen Glücks."

Vielleicht sollte Jürgen Fuchs - statt dauernd alte Havemann-Fotos zu betrachten und alte Biermann-Lieder zu pfeifen - einmal über die kluge Definition dieses ungarischen Juden nachdenken: Sie weist einen Weg ins Freie.

Dies jedenfalls wäre ergiebiger, als verkniffenen Spott über jene auszukippen, die bereits innerlich frei geworden sind; Reiner Kunze etwa in seinen Gedichten oder den Namibischen Notizen. Dem neurotischen Fuchs fällt dazu jedoch nur die nächste Verschwörungstheorie ein: "Sie wollen Schmuckstücke ihres Hasses aus uns machen, Spinner, Schizophrene, der eine als Wildfarmer in Namibia..."

Spätestens hier kann Literaturkritik nicht mehr mithalten; Jürgen Fuchs, immerhin ein erfahrener Psychologe und Therapeut, müßte eigentlich ahnen, daß er in Gefahr ist, selbst zum Patienten zu werden.

Jürgen Fuchs: Magdalena. MfS. Memfisblues. Die Firma. VEB Horch & Gauck. Ein Roman, Berlin: Rowohlt-Verlag 1998


Blender aus der DDR - Ex-Rechtsradikaler reüssiert mit Stasihorrorstory

Wie der Lichtkünstler Gert Hof mit einer aufgebauschten und teilweise gefälschten Biografie als Stasi-Opfer und Dissident Karriere machte enthüllte im Mai 2005 DIE ZEIT (Nr. 22/2005):

Der Blender :Wie der Lichtkünstler Gert Hof mit einer aufgebauschten und teilweise gefälschten Biografie als Stasi-Opfer und Dissident Karriere machte

Von Henrike Thomsen und Peter Disch

Gert Hof ist ein Mann der Superlative, und er zündelt gern. Zum Beispiel bei der Millenniums-Feier in Athen. Mikis Theodorakis ließ auf der Akropolis einen Chor von mehr als tausend Sängern erschallen. Hof besorgte für 1,9 Millionen Zuschauer vor Ort und eine halbe Milliarde am Fernseher ein monumentales Feuerwerk. Die Akropolis tauchte er in gleißend blaues, weißes und rotes Licht. Starke Scheinwerfer flackerten in der Nacht wie Mündungsfeuer. Dutzende von symmetrischen Achsen formten sich über den Säulenreihen. Wie eine Maschine folgte das präzis choreografierte Feuerwerk der kalten Farben Theodorakis’ Musik. Jubelnde Streicher, schmetternde Bläser, ekstatische Chöre: ein Sound so wuchtig wabernd wie der Rauch von Hofs Feuerwerk und sein geliebter künstlicher Nebel. Gert Hofs "China Millenium Event" vom 1. Januar 2001© Sven Treder BILD

Gert Hof ist einer der international erfolgreichsten Lichtdesigner. Zu seinen Kunden zählen die Volksrepublik China, die Europäische Kommission, die Expo 2000, der Musikkonzern Universal und das Washington Holocaust Museum. Als Regisseur konzipierte er die Shows der erfolgreichsten deutschen Rockband Rammstein, bei denen ihr Sänger Till Lindemann effektvoll in Flammen aufging. Praktisch alle großen Medien haben ausführlich über Hof berichtet. Er inszeniert sich als düsterer Schmerzensmann und manisches Genie; einer, der mit einem Gesamtkunstwerk hoch hinaus will über das Mittelmaß. Die passende Lebensgeschichte dazu hat er parat. Sie handelt davon, wie die Stasi 1967 beim damals 16-jährigen Gert Hof eingefallen sei und ihn wegen einiger Pop-Singles und Freiheitsgedichte festgenommen habe. In der Stasi-Haft, sagt der heute 54-Jährige regelmäßig in Interviews, habe ihm ein Wachmann das rechte Auge ausgeschlagen. Seither brenne er vor Wut. So rechtfertigt Hof die Tabubrüche seiner Ästhetik, die Kritiker an Speer und Riefenstahl erinnern. Aber die Geschichte ist maßlos übertrieben und zum Teil frei erfunden.

1. Auf dem rechten Auge blind

Hof ist ein unscheinbarer Mann. Untersetzt. Kahlköpfig. Große Brille. Mit diesem starren, milchig eingetrübten Auge hinter dem rechten Glas. Aber er kann erzählen. »Wie Sie vielleicht wissen, saß ich in der DDR anderthalb Jahre in Haft, und die Stasi hat mir ein Auge ausgeschlagen. Das alles wegen zwei Rolling-Stones-Platten, weil Tante Marga aus Hamburg The Last Time und Satisfaction geschickt hatte.« Er habe auch ein paar Gedichte geschrieben, in denen es Anspielungen auf die Beat-Lyrik gegeben habe. In einem preisgekrönten Porträt der Berliner Zeitung schilderte er sein Martyrium im Gefängnis weiter: »Als ich [nach längerer Dunkelhaft, Anm. der Red.] rauskam, blendete die Helligkeit, dass es schmerzte. Ich riss die Arme hoch, um die Augen zu schützen, da schlug ein Wachmann mit seinem Knüppel zu.« Auf einem OP-Tisch sei er wieder zu sich gekommen, auf dem rechten Auge blind. Stasi und Justiz hätten drohend geraten, über den Vorfall zu schweigen. »Jeden Morgen beim Rasieren sehe ich das Auge«, sagt Gert Hof. »Jedes Mal, wenn ich mir ein bisschen unter die Haut schneide, sitzt da dieser Schmerz. Ich weiß ja nicht, was in Bautzen in mir verloren ging. Vielleicht wäre ich ohne diese Erfahrung hinterm Postschalter gelandet oder Banker geworden.« Aber was ist damals wirklich passiert?

Taucha ist eine deutsche Kleinstadt wie aus dem Bilderbuch. Schmucke Altstadt mit Kopfsteinpflaster, Schloss, Rathaus und Heimatmuseum. An der Hauptstraße in Richtung Leipzig stehen viele Häuser leer. Eingeschlagene Fenster, verblichene Schilder längst aufgegebener HO-Gaststätten, Mietskasernen. In einem dieser grauen Wohnblöcke wurde Hof groß in einer Zeit, als die DDR ihre Gangart gegenüber Jugendlichen verschärfte. Seit 1965 war die Angst des Staates vor der »Verherrlichung der westlichen Lebensverhältnisse« so groß, dass das Hören von »Beatmusik«, die »Einschleusung westlicher Literaturerzeugnisse« und selbst das Tragen von Jeans zum staatsfeindlichen Akt wurden. Als Folge der Westinfiltration witterte man überall »Gruppierungen, die selbstgefertigte Hetzschriften verbreiten, andere Jugendliche ideologisch beeinflussen«. Stasi-Chef Erich Mielke forderte: »Bei Beginn von Zusammenrottungen muss eingeschritten werden, und die Organisatoren und Rädelsführer müssen festgestellt und zur Übergabe an die Gerichte bzw. zur Einleitung von Arbeitserziehung festgenommen werden.«

In dieses Klima fiel die Verhaftung von Gert Hof im September 1967. »Der Gert hat einen Haufen Schallplatten gehabt«, erinnert sich Karlheinz Boesler, der damals zu seiner Clique gehörte. »Er hatte immer sein Kofferradio mit.« Hof schrieb auch Texte und unterlegte sie mit Musik. Boesler erinnert sich an Titel wie Will frei sein wie ein Vogel oder Der Wind der Welt. Die Clique traf sich im Jugendclub, vor dem Kino, im Wartehäuschen der Tram, in Parks – ein Dutzend Unzufriedener, die gegen die Regierung schimpften, immer lauter, selbst beim Schwof in der Stadthalle. In die Kritik an den Verhältnissen mischten sich auch rechtsradikale Töne. Man sang schon mal Nazilieder oder zeigte den Hitlergruß, erinnert sich Boesler. Der Anführer der Gruppe, zehn Jahre älter und wegen Diebstahls vorbestraft, gab den Ton an. »In Leipzig, als wir zum Tanzen waren, da ist er ans Mikrofon und hat gesagt: ›Wollt ihr den totalen Beat?‹ Da haben die Massen getobt«, sagt Boesler.

Die Stasi, die die Gruppe beobachtete, sollte solche Parolen als einen wesentlichen Grund für die Anklage wegen »staatsgefährdender Propaganda und Hetze« nutzen. Im Frühjahr 1968 kam es zum Prozess. Der 16-jährige Hof erhielt 18 Monate, der 18-jährige Boesler zwei Jahre. Nach der Wende erwirkte der frühpensionierte Bauarbeiter, der heute in Bayern lebt, ein Rehabilitierungsurteil. Die jungen Leute seien »in ihrer Ablehnung des Kommunismus und Sozialismus auch auf die extreme rechte Seite der Politik« geraten und »plapperten ohne genaueres darüber zu wissen, einiges aus dem Wortschatz der Nationalsozialisten nach«, heißt es darin.

Der exemplarische Vollzug der neuen Jugendpolitik traf die Clique mit voller Härte. Aber ein Schicksal, wie es Boesler und viele andere in der DDR für ihren ungelenken Protest gleichfalls erlitten, reichte Hof nicht aus. Dazu passt, dass er die rechten Parolen der Gruppe heute verschweigt und dass er die anderthalb Jahre seiner Strafe in Bautzen verbüßt haben will, dem berüchtigtsten DDR-Gefängnis, in dem unter anderem der renommierte Schriftsteller Erich Loest für angebliche »konterrevolutionäre Gruppenbildung« einsaß. Dokumentiert ist dagegen nur, dass Hof nach einem halben Jahr Untersuchungshaft bei der Stasi in Leipzig die restlichen zwölf Monate in einem Jugendgefängnis in Thüringen absaß, wie die Zentrale Haftkartei des Innenministeriums der DDR belegt.

Vor allem aber ist da die Sache mit dem Auge. Seinem Arbeitgeber Werner Hecht vom Brecht-Zentrum der DDR erzählte Hof Mitte der siebziger Jahre eine ganz andere Version: Er habe das Auge 1957 durch einen Unfall verloren, und zwar durch einen Ballwurf. Auch in einem handschriftlichen Lebenslauf, 1968 in der Haft verfasst, führte er aus: Er habe in seiner frühen Kindheit einen »Augenunfall« gehabt, sei rechts erblindet und seither Brillenträger. Dass es sich dabei nicht um eine von der Stasi befohlene Tarngeschichte handelt, bestätigen Jugendfreunde wie Boesler: Hof hatte nach ihrer Erinnerung bereits als Kind einen Sehfehler. Fotos zeigen einen dicklichen Jungen mit Hornbrille. Auf einem Faschingsbild, Hof mit Cowboyhut und Pistole, ist der milchige Streifen auf der rechten Pupille deutlich zu sehen. Es ist der gleiche Streifen, den man heute erkennt, wenn er über seine Vergangenheit erzählt ohne zu blinzeln.

2. »Ich war der Terrorist«

Die Chausseestraße in Berlin-Mitte: Eckkneipen und Weinbars, Bioläden und Kiezkioske. Touristen pilgern zu den Gräbern von Bertolt Brecht und Heiner Müller auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, Einheimische steuern morgens um zehn auf das erste Glas zu. Hier liegt das Büro der G. Hof Productions, eine international vernetzte Veranstaltungsfirma für Feuerwerk und Bühnenshows, Musikvideos, Installationen und Ausstellungen. Hof ist ein gemachter Mann, der privat mit seiner Familie in Wandlitz lebt, dem idyllischen alten Kurort und Wohnsitz der DDR-Politprominenz. Doch die Vergangenheit ist nicht fern.

Wenige hundert Meter nördlich von Hofs Büro auf der Chausseestraße liegt das Brecht-Zentrum, das Werner Hecht aufbaute. Der Herausgeber der großen Brecht-Werkausgabe bei Suhrkamp erinnert sich gut an seinen ehemaligen Zögling Gert Hof. »Der kam 1976 auf mich zu, da war er in Leipzig als Bibliothekar tätig, war aber eigentlich Chemiefacharbeiter. Jemand hatte entdeckt, dass er viel liest, und gemeint: ›Du machst in unserer Fabrik die Bibliothek.‹ Ich nahm ihn auf, weil ich im Begriff war, das Brecht-Zentrum zu gründen. Ich dachte, der kann mal den Stab übernehmen. Ich habe viel auf ihn gehalten, auch viel in ihn investiert.«

Unverhofftes Glück für einen, der doppelt behindert war durch das Auge und seine Haftstrafe, die er nach Hechts Erinnerung damals nie erwähnte. Zunächst erfüllte Hof die in ihn gesetzten Erwartungen. Der gelernte Chemielaborant, der nach den Akten des Brecht-Zentrums seit 1969 in verschiedenen Leipziger Betrieben gearbeitet hatte und sich von 1974 an per Fernstudium zum Bibliothekar fortbildete, kompilierte jetzt Inszenierungsdokumentationen und hielt Vorträge. Doch mit Beginn der Achtziger wurde er aus Hechts Sicht unzuverlässig. »Er kam nicht zur Arbeit oder ging ohne Begründung zeitiger weg.« 1982 habe er ohne Erlaubnis für Alexander Lang am Deutschen Theater gearbeitet. »Da kam er dann fast überhaupt nicht mehr. Es war klar, dass ich ihn entlassen musste.«

Hof leistete sich vielleicht Unregelmäßigkeiten, aber er wurde nicht wieder aufmüpfig. Im Gegenteil: Hecht erinnert sich, dass Hof noch in Leipzig für die Aufnahme in die SED kandidierte und einen Literaturclub der FDJ leitete. Von 1976 an war er laut Personalkarte des Brecht-Zentrums Mitglied der Staatspartei und wurde später zum Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsgruppe gewählt. Ein Beitrag, den er als dramaturgischer Mitarbeiter für Alexander Lang zu Die Rundköpfe und die Spitzköpfe verfasste, referiert brav über den »Aufstand der unzufriedenen Massen« und die »Zeit des antifaschistischen Kampfes«.

Später jedoch hat Hof seine Vita ganz auf Dissidententum getrimmt und sich zum Ausnahmeintellektuellen und Kultregisseur stilisiert. Nach seiner Haftentlassung, so erzählt er in Interviews, habe er in Leipzig studiert: zunächst »Antike Philosophie«, denn »das war eines der wenigen Fächer, in denen man mit dem SED-Überbau nichts zu tun haben musste«. Nach zwei Jahren sei das Fach eingestellt worden und er an die Theaterhochschule Hans Otto gewechselt, zu Theaterwissenschaft und Regie. Gleich mit seinen ersten Inszenierungen habe er größtes Aufsehen erregt. Zum Beispiel mit der DDR-Erstaufführung von Heiner Müllers Philoktet: »Ich ließ die Schauspieler in Trenchcoats wie bei der Staatssicherheit herumlaufen.« Dazu habe er ihnen Glühbirnen in die Hand gegeben, »die ungeheuer große Schlagschatten machten, fast acht Meter hoch«. Das Stück sei nach drei Aufführungen abgesetzt und verboten worden. »Aber es wurde legendär.« Oder Schillers Wilhelm Tell am Theater Leipzig, eine Produktion, bei der er einfach die Titelrolle gestrichen habe. Dem Leipziger Intendanten, einem der mächtigsten in der DDR, sei bei der Generalprobe »das Essen aus dem Gesicht« gefallen, so Hof in der Süddeutschen Zeitung. »Für mich war Theater ein Instrument, um gegen das Land zu kämpfen. Ich war der Terrorist.«

Seltsam nur, dass sich niemand sonst daran erinnert und sich in den Archiven nichts darüber findet. An der Karl-Marx-Universität gab es damals gar kein Spezialfach »Antike Philosophie«. Bis 1969, so Professor Klaus-Dieter Eichler, der bis 2001 in Leipzig lehrte, bot die Uni einen Gesamtstudiengang Marxistische Philosophie an. Von 1971 an kam eine fünfjährige Ausbildung in Geschichte der Philosophie dazu, inklusive Platon und Aristoteles. Einen separaten Studiengang zur Antike gab es jedoch laut Eichler »definitiv nicht«.

Auch in den Akten der Hans-Otto-Schule findet sich nichts, obwohl man über jeden Studenten Buch führte, und nichts in den Archiven der Oper Leipzig, die über die vollständigen Unterlagen der Städtischen Theater aus den Siebzigern verfügt. Weder von Wilhelm Tell noch von anderen Inszenierungen, die Hof für sich reklamiert, findet sich eine Spur. (Später in Berlin hat er sich ebenfalls Aufführungen und Auszeichnungen fälschlich im Lebenslauf zugeschrieben.) »Der Tell ohne Tell würde mir bestimmt durch den Kopf gehen, schließlich war das Städtische Theater sonst so muffig«, sagt der Kritiker Michael Hametner, der seit 1975 die Leipziger Szene kennt. Auch Karl Georg Kayser entsinnt sich nicht. »Das würde ich auch nicht vergessen haben, ein Wilhelm Tell in diesem Zeitraum«, sagt der Sohn des damaligen Leipziger Generalintendanten, der bis 1972 selbst an der Hans-Otto-Schule studierte und in Leipzig 1976 als Regisseur debütierte. Die DDR-Erstaufführung von Philoktet stammt unterdessen von Annegret Hahn, heute Intendantin des Thalia Theaters Halle, die von Hof noch nie etwas gehört hat.

Kein mutiger Regimekritiker, kein maßgeblicher Regisseur: Am Ende war Hof weder für den Staat noch für die Kunst der DDR wichtig. Ein Mitläufer vielmehr, einer mit Parteibuch, der erst, als der Wind der Perestrojka wehte, in der DDR-Rockszene hervortrat und 1986 das unbequeme Musical Paule Panke für die Band Pankow inszenierte. Pankow hatte die kritische Parabel über die Langeweile in der DDR und »die alten Männer / zu lange verehrt« freilich bereits seit 1981 gespielt. Als der Stoff für das Theater aufbereitet werden sollte, stieß Hof dazu. »Der schlich sich so ein und bekundete sein Interesse«, erinnert sich der Sänger und Hauptdarsteller André Herzberg. »Er kam und hat seine Scherze gemacht. Er war nicht so politisch.«

3. Die größte Waffe ist die Wahrheit

»Gert Hof / … / Ein Spagat der Extreme / Das Größte immer zu klein / … / Übertreibung eine Tugend…/ So sagt man, er würde die Dinge ins Rechte Licht setzen / Einen Speer in die Nachtwolken werfen«, heißt es in einem Gedicht von Till Lindemann, dem Sänger von Rammstein. Die Zusammenarbeit mit der Band seit den späten Neunzigern gab der Ästhetik von Hof zuletzt doch eine politische Note. Rammstein wurde wegen der Herrenmenschenposen und der vieldeutigen Anspielungen bekannt, die Lindemann mit rollendem r vorträgt. Hof konzipierte die monumental-mystischen Bühnenshows, die das Image der Band prägten, ebenso das Video Stripped mit Zitaten aus Riefenstahls Olympia-Filmen.

Seither boomt auch die Karriere als Lichtregisseur für Jubiläen, Galas und kommerzielle Events; Anfang Mai brannte er das große Feuerwerk zur 1200-Jahr-Feier von Magdeburg ab. Zu solchen offiziellen Anlässen gibt sich Hof stets politisch korrekt. Sogar für die Gedenkstätte von Auschwitz plante er eine große Installation: eine Serie meterhoher Kinderporträts, die am Weg zum Krematorium stehen und langsam in Flammen aufgehen. Die Rammstein-Ästhetik, ins Moralische gewendet. Leere Monumentalität, mit dem Leid der Naziopfer verschränkt.

Zu Hofs Lieblingsgeschichten gehört, wie er zwar für heikle Kunden wie die chinesische Regierung oder arabische Scheichs arbeite, ihnen dabei aber eine Lektion erteile. Die Anekdoten ähneln sich, ob sie sich im fernen Peking oder in Dubai zugetragen haben sollen. Die Auftraggeber wollen Hof die Gestaltung des Feuerwerks vorschreiben. Er bleibt standhaft bei seinem Konzept und setzt sich am Ende durch. »Man muss mit den Jungs einfach Klartext reden«, sagte er der Sächsischen Zeitung.

Klartext aber ist das Letzte, was Hof spricht. Mit immer neuen Märchen stilisiert er seine Geschichte, verschleiert und schönt. Kein Zweifel: Gert Hof ist ein Opfer der Stasi geworden, doch er ist kein reines Opfer geblieben. Sein Vorgehen erinnert an das schizophrene Verhalten der ostdeutschen Bürgerrechtler und Intellektuellen, die nach der Wende als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wurden. An die Schriftsteller Fritz Rudolf Fries und Sascha Anderson etwa, aber vor allem an Ibrahim Böhme, der 1989 als Gründer der Sozialdemokratischen Partei der DDR zu Medienruhm gelangte. Böhme hatte sich in einem Gebäude aus Halbwahrheiten und Lügen eingerichtet, das er auch nach seiner Enttarnung nicht aufgab. Um sich interessant zu machen, gab er sich als Sohn jüdischer Emigranten aus. Nach außen Teil der Opposition, für eine Flutblatt-Aktion selbst verhaftet, blieb er aber Teil des Systems und verfasste heimlich bis zum Ende der DDR Berichte für Mielkes Apparat.

Ausgerechnet wie bei den janusköpfigen Zuträgern der Stasi also verwischen sich bei Hof Züge von Opfer und Täter; wie mancher Ostdeutscher scheint er die volle Wahrheit verdrängen zu müssen. Dabei profitierte Hof auf Kosten anderer, als er seine Geschichte heftig aufbauschte und – moralisch doppelt fragwürdig – seine Tabubrüche damit legitimierte. Leider konnte er sich stets darauf verlassen, dass dankbare Reporter seine Geschichten unhinterfragt aufschrieben und ohne Gegenrecherche abdruckten. (Die Verfasser dieses Artikels fielen zunächst auch auf Hof herein und veröffentlichten 2003 ein unkritisches Porträt.) Trotz wiederholter Bitten um Stellungnahme hat er sich gegenüber der ZEIT zu den neuen Erkenntnissen bisher nicht geäußert.

Gert Hof ist ein Blender. Ein Mann, der sein Fähnchen überall in den Wind hängt, die typische Mischung aus Biedermann und Brandstifter, der sein Geschäft damit gemacht hat, sich als prinzipientreu und unbeugsam darzustellen. »Welche Werte sollen wir unseren Kindern weitergeben?«, fragte ihn die Zeitung Junge Freiheit einmal. »Moral«, antwortete er. »Bei wem und wofür ist noch eine Entschuldigung fällig?«, fragte die Deutsche Welle. »Fällt mir jetzt nichts ein«, sagte Hof. »Ich lebe nach dem Grundsatz: Die größte Waffe, die der Mensch hat, ist Wahrheit.«


Journalisten + westliche 'Dienste'

Im Zusammenhang mit dem "Schäfer-Bericht" gibt es neuere Erkenntnisse über das Zusammenwirken von bundesdeutschen Nachrichtendiensten und Medien ("Nachrichtendienstmagazin"), wobei auch frühere Stasi-Tätigkeit kein Hindernis ist:

Die geheime Zusammenarbeit zwischen Journalisten und dem Bundesnachrichtendienst (BND) war und ist immer ein heißes Thema. Erich Schmidt-Eenbohm hat darüber ein Buch veröffentlicht. Der Journalist Eckart Spoo (Frankfurter Rundschau) hat es für die Zeitschrift Ossietzky rezensiert, die in Hannover erscheint. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages kann diese Buchbesprechung verbreitet werden; anschließend noch der Text eines Beitrags im ARD-Fernsehmagazin kulturreport über jenes Buch:

Schon vor Erscheinen des Buches "Undercover - Der BND und die deutschen Journalisten" von Erich Schmidt-Eenboom reagierte Michael Naumann aufgebracht. Der frühere Redakteur des "Münchner Merkur" und der "Zeit", der es später zum Leiter des Rowohlt-Verlags brachte, heute eine New Yorker Tochterfirma des Medienkonzerns Holtzbrinck leitet und bei Gerhard Schröder zum Schattenmann für Kultur avanciert ist, wollte nicht als Verbindungsmann des Bundesnachrichtendienstes mit dem Decknamen "Elze" genannt werden.

Über diese schriftliche Forderung kann sich Autor Schmidt-Eenboomnur amüsieren. Denn "Elze", so erfährt man aus seinem Buch, heißt in Wirklichkeit Böhme und war lange Zeit Leiter der BND-Dienststelle 923, deren Aufgabe die Zusammenarbeit mit den Medien war. Über Naumann liest man vielmehr dies:

Von Dienststellenleiter "Elze" persönlich geführt, habe Naumann den Decknamen "Norddorf" erhalten. Aber als Schwiegersohn des zeitweiligen BND-Präsidenten Gerhard Wessel habe Naumann auch andere Kontakte zu diesem Geheimdienst gehabt.

Der Deckname "Norddorf" entspricht der Regel, nach der die Dienststelle 923 ihre "Pressesonderverbindungen" tarnte: Der Anfangsbuchstabe stimmt mit dem des Klarnamens überein wie bei Heinz van Nouhuys = "Nauke", Peter Boenisch = "Bongart",Herbert Kremp "Konen", Klaus Jacobi = "Jachenau", Armin Mohler = "Mühlen", Enno von Loewenstern = "Leoben", Karl Holzamer (früherer ZDF-Intendant) = "Hupperz", Walter Steiger (Intendant des Senders Freies Berlin und später der Deutschen Welle) = "Steffel", Jens Feddersen (langjähriger Chefredakteur der "Neuen Ruhr-Zeitung") = "Feldmann", Otto B. Roegele (Herausgeber des "Rheinischen Merkur") "Dr. Richard", Helmut Cron (Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes in dessen Anfangsiahren) = "Colberg", Wilhelm Reissmüller ("Donan-Kurier") = "Rotfüchs", Helmut Kampmann ("Rhein-Zeitung") = "Köslin".

Schmidt-Eenboom nennt hunderte Journalisten, die er auf BND-Listen fand. Kleine Lokalredakteure oder Musikrezensenten sind nicht darunter. Zum großenTeil sind es Chefredakteure, Herausgeber, Intendanten. Von einigen gibt er auch die V-Nummern an. Was er präsentiert, ist eine illustre Versammlung nicht nur strammer Rechtsschreiber von "Bayernkurier", "Bild", "Welt" und FAZ, sondern auch mancher Einerseits-andererseits-Kommentierer von öffentlich-rechtlichen Anstalten und von Blättern, die als liberal firmieren. Über die "Süddeutsche Zeitung",aus deren Redaktion er etliche Namen nennt, heißt es u.a.: "Immer wieder einmal ist es dem BND gelungen, der ,Süddeutschen Zeitung 'Desinformationen zu verkaufen."

General Gerhard Wessel, engster Mitarbeiter des BND-Gründers General Reinhard Gehlen schon in den Zeiten, als der Dienst noch "Fremde Heere Ost" hieß (zwischendurch bedienten sich die USA zehn Jahre lang dieser deutschen Spionagetruppe, bevor sie sie 1955 dem von Hans Globke geleiteten Bundeskanzleramt unterstellten), sagte als Gehlens Nachfolgeran der Spitze des BND am 9. Oktober 1974 vor dem Guillaume-Untersuchungsausschuß des Bundestages: "Ich halte es für eine legitime und ehrenvolle Mitarbeit auch von Journalisten, wenn sie dem BND Erkenntnisse vermitteln."Freilich: "Die Frage der Honorierung ist ein Problem für sich."Einige Einzelheiten darüber wußte 1986 der heutige Chefredakteur der "Woche", Manfred Bissinger, in dem Buch "Unheimlich zu Diensten - Medienmißbrauch durch Geheimdienste" (hg. von Ekkehardt Jürgens und Eckart Spoo) mitzuteilen: "Der Dienst hatte einzelne Redakteure, vor allem Korrespondenten in den osteuropäischenStaaten, unter Vertrag und zahlte monatliche Gehälter für deren Berichte. Das schwankte je nach Ergiebigkeit des Standorts (Moskau wurde besser bezahlt als Warschau) zwischen 1.000 und 8.000 Mark monatlich. Die Journalisten hatten Agentennummern und Agentenführer. Letztere gehörten meist zu Tarnfirmen, die der BND für solche Zwecke unterhielt. Mir war einer gut bekannt - Agentennummer V 16173, heute ein wohlbestallter deutscher Chefredakteur. Für seine Berichte kassierte er damals bis zu 10.000 Mark im Monat." Bissinger erläuterte: "Ich spreche in der Vergangenheitsform, obwohl ich annehme, daß es heute nicht viel anders ist."

Schmidt-Eenboom ergänzt nun, daß es für die PR-Strategen des BND in der Regel nicht erforderlich gewesen sei, sich Journalisten gefügig zu machen:

"Viele mußten nicht einmal konspirativ angeworben werden, sondern wandten sich aus eigenem Antrieb an den BND. Nur wenige erhieltenein regelmäßiges monatliches Entgelt für ihre Kooperation, und nur einige wurden von ihrem Verbindungsführer mit Gratifikationen von der goldenen Uhr bis zum Schmuckstück für die Gattin oder eher bescheidenen Geldprämien bedacht... In den allermeisten Fällen erfolgte die Vergütung durch die Ware Information." Andererseits gab es, wie im Guillaume-Untersuchungsausschuß der damalige Staatssekretärim Kanzleramt Horst Ehmke darlegte, "regelmäßige Geldleistungen an Presseangehörige, deren Gegenleistung, falls es überhaupt eine Gegenleistung gab, jedenfalls nicht auf dem Gebiet der Auslandsaufklärung lag" - obwohl die Aufgaben des BND auf dieses Gebiet beschränkt sind.

Wie Schmidt-Eenboom bei seinen Recherchen feststellte (zweieinhalb Jahre arbeitete er an dem Buch), kam es auch vor, daß der BND darauf verzichtete,einen Journalisten anzuwerben; Begründung: Er erfülle auch so seinen Zweck. In diese Kategorie könnte auch der "Zeit"-Herausgeber Theo Sommer gehören, den Schmidt-Eenboom so zitiert: "Ich bin da völlig unbefangen. Wenn einer von denen etwas wissen wollte, dann habe ich es ihm gesagt, und bei meinen Aufenthalten im Ausland habe ich manchen klugen BND-Residenten getroffen, der weit mehr über Land und Leute wußte als der Botschafter..." Die geheimdienstlichen Kontakte der in diesem Buch genannten Journalisten waren jedenfalls von sehr unterschiedlicher Art und Intensität. Als Schmidt-Eenboom sie direkt ansprach, äußerten sich einige überrascht, z.B. Theo Sommers Herausgeber-Kollegin Marion Gräfin Dönhoff (im März 1970 unter dem Decknamen "Dorothea"als erstrangige BND-Pressesonderverbindung registriert). "Ich weiß wirklich nicht, was damit gemeint ist", antwortete sie auf die Anfrage.Sie räumte aber ein, daß ein Mitarbeiter Gehlens, an dessen Namen sie sich nicht erinnere, "gelegentlich bei der Zeit vorbei kam und mit Sommer oder mir gesprochen hat, so, wie man mit irgendeinem Fremden,der eine Zeitung besucht, spricht, ohne daß es dabei um erheblicheProbleme geht". Wilhelm Greiner ("Grothe") Chefredakteur des "Schwarzwälder Boten", antwortete: "Das ist jawie bei der Stasi" - womit er insofern recht haben kann, als offenbar manche Journalisten ohne ihr Wissen geheimdienstlich "abgeschöpft" wurden. Decknamen und V-Nummern allein sind keine Beweismittel. Der Unterschied ist nur, daß diejenigen Medien, deren frühere oder jetzige Chefs beim BND registriert waren oder sind, selten Bereitschaft zeigen, den Stasi-IM's zu glauben, die ihrerseits versichern, nie wissentlich für den Geheimdienstgearbeitet zu haben.

Bei Einzelnen - wie Hans Heigert ("Holtkamp") von der "Süddeutschen"- vermutet Schmidt-Eenboom sogar, ihre Registrierung könne bloßem "Wunschdenken" des BND entsprungen sein. Aber wenn einer wieder langjährige "stern"-Herausgeber Henri Nannen ("Nebel") als "voll tragfähige regelmäßige Verbindung"geführt wurde, ist anzunehmen, daß er sich dem Gehlen-Wessel-Kinkel-Porzner-Geiger-Dienst nützlich gemacht hat. Und das gilt für viele, die in jungen Jahren schon bei "Fremde Heere Ost" oder als Propagandaoffiziere tätig gewesen sind. Hier stützt sich Schmidt-Eenboom auf das reichhaltige Material, das Otto Köhler in "Wir Schreibmaschinentäter- Journalisten unter Hitler - und danach", Köln 1989, zusammengetragen hat.

Mit Genehmigung des Autors zitieren wir eine Passage des Buches, die sich mit Dr. Dr.h.c. Hans Otto Wesemann befaßt, dem Gründungsintendanten der Deutschen Welle. Wesemaun war in der Goebbels-Zeitschrift "DasReich" Leiter des Wirtschaftsressorts gewesen. So kamen die "Fachleute"(eine Formulierung des heutigen DW-Intendanten Dieter Weirich), die Wesernann an den Sender holte, "häufig aus dem Umfeld des Reichspropagandaministeriums, aber auch aus den Reihen der Osteuropäer, die im Zweiten Weltkrieg für Gehlens Wehrmachtsabteilung Fremde Heere Ost nachrichtendienstlich tätig waren". Weiter berichtet Schmidt-Eenboom: "Daß Wesemann Personal nicht nur aus dem NS-Medienverbund, sondern auch ausdem Geheimdienstbereich gewinnen konnte, hat einen dunklen Hintergrund.SPD-Mitglied Wesemann, in der Weimarer Republik als Journalist für den Vorwärts und den Sozialdemokratischen Pressedienst tätig, war 1933 nach London emigriert. Als das Geheime Staatspolizeiamt die deutsche Botschaft in der britischen Hauptstadt um die Suche nach einem geeigneten Agenten zur Infiltration der Exilgruppen bat, meldete die Londoner Vertretung schnell Vollzug. Dr. Hans Wesemann hatte sich am 28. Juni 1934 zur Zusammenarbeitmit der Gestapo verpflichtet. Im Herbst reiste er nach Berlin, um erste Aufträge entgegenzunehmen. ,Ich begriff, daß ich die deutsche Sache verraten hatte und legte mir Sühne auf, bekannte er später.

Seine Wiedergutmachung bestand in dem Versprechen, der Gestapo deutsche Oppositionelle ans Messer zu liefern. Bei dem Versuch, sich an den kommunistischen Propagandaspezialisten Willy Münzenberg heranzumachen, scheiterte er an dessen Routine. Aber der von Straßburg aus agierende Pazifist Berthold Jacob war ein argloses Opfer. Der Mitarbeiter von Carl von Ossietzky setzte im französischen Exil im Unabhängigen Zeitungsdienst seine Enthüllungen über die deutsche Aufrüstung fort - sehr zum Zorn von Gestapochef Reinhard Heydrich. Jacob kannte Wesemann aus Weimarer Zeiten, er war Trauzeuge gewesen, als der Sozialdemokrat die Jüdin Herta Meyer aus Leipzig geheiratet hatte. Wesemann gewann das Vertrauen seines alten Freundes Jacob durch die Lieferung von Informationen, Spielmaterial der Gestapo, und lockte ihn schließlich mit dem Versprechen, eine englische Ausgabe seines lnformationsdienstes zu organisieren und ihm die erbetenen falschen Pässe auszuhändigen, am 9. März 1935 im Auftrag von zwei Trierer Gestapobeamten nach Basel. Mit Hilfe eines Lörracher Gestapokommissars entführte er dann seinen ehemaligenTrauzeugen im Taxi über die Grenze nach Deutschland, schon am 12.März saß der Mitarbeiter Ossietzkys zum Verhör in der Berliner Zentrale des Heydrich-Dienstes. Die Schweizer Behörden waren 1935 noch entschlossen genug, nun ihrerseits den sofort geständigen Wesemann zu verhaften und mit Erfolg auf der Auslieferung von Berthold Jacob zu bestehen, der am 18. September freigegeben wurde. Für den operativen Einsatz bei der Gestapo nicht Manns genug und in der Schweiz als geheime Verbindung in die Exilgruppen überdies verbrannt, durfte Wesemann dann in seinen angestammten Beruf als Journalist zu Joseph Goebbels wechseln."

  • Erich Schmidt-Eenboom: Undercover. Der BND und die deutschen Journalisten, Kiepenheuer & Witsch (Köln), 450 Seiten, 48 Mark

ARD-kulturreport 23. August 1998

"Undercover" - Journalisten und BND



Es ist die Zeit des Kalten Krieges. Aufrüstung und Abschottung bestimmen die Politik. Der Osten mauert sich ein. Auch die Journalisten rüsten auf. Die gleichgeschaltete ostdeutsche Presse agitiert gegen den Klassenfeind. Massiv machen auch westdeutsche Redaktionen Politik.

Der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom erhebt schwere Vorwürfe gegen den Bundesnachrichtendienst (BND) und westdeutsche Journalisten. In seinem Buch "Undercover" belegt er, daß die westdeutschen Medien in den 50er und 60er Jahren systematisch vom BND unterwandert worden sind.

O-Ton Schmidt-Eenboom:
"Es ist festzuhalten, daß es in einem freien Land und einer freien Presse ein vom Nachrichtendienst geschaffenes Netzwerk von Nachrichtendienstlern und Journalisten gab, bei dem die Journalisten die öffentliche Meinung im Sinne des Bundesnachrichtendienstes vor dem Hintergrund des Kalten Krieges beeinflußt haben."

Die Namensliste war jahrelang ein wohlgehütetes Staatsgeheimnis. Jetzt liegt sie vor. Sie liest sich wie ein "Who is who" der westdeutschen Presselandschaft. Die Journalisten wurden mit Decknamen und V-Nummern geführt. So tauchen Namen auf wie Peter Boehnisch, Henry Nannen und die Herausgeberin der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff.

O-Ton "Marion Gräfin Dönhoff":
"Aufgetreten bin ich nirgends unter diesem komischen Decknamen. Das muß irgendjemand erfunden haben, der sich bei seinen Vorgesetzten wichtig machen wollte, was er alles für bekannte Namen in seinem Tornister hat. Ich habe nie was von "Dorothea" gewußt oder nie was mit den Kerlen zu tun gehabt.

Ich nehme an, das weiß ich jetzt nicht mehr, es ist ja auch lange her, daß dieser Herr Weiß, dessen Name mir entfallen war, daß der hier aufgekreuzt ist, wie auch andere Leute kommen, Jounalisten vom Ausland und sich mal 10 Minuten unterhalten haben. Ich wäre natürlich nie auf den Gedanken gekommen, daß ich dadurch zu einem Mitarbeiter des BND werde."

Der Vorwurf des Autors Schmidt-Eenboom an Frau Dönhoff lautet: "Ich habe Frau Dönhoff natürlich bei den Recherchen gefragt und sie hat mir schriftlich bestätigt, daß ein Abgesandter Gehlens sie regelmäßig in der Redaktion der ZEIT besucht hat und auch ihr Chefredakteur Theo Sommer hat das bestätigt."

Schmidt-Eenboom wirft auch dem langjährigen Moderator des ZDF-Magazins Gerhard Löwenthal vor, er habe aus BND-Akten zitiert und sei ein Sprachrohr Pullachs gewesen.

Schmidt-Eenboom:
"Es gab im Fall Löwenthal eine Mischung in der Berichterstattung. Sehr viele Informationen des BND über die DDR, über die Warschauer Vertragsstaaten, die er einfach übernommen hat und die richtig und gut recherchiert waren. Aber in der Vielzahl der Dinge, die er übernommen hat, gab es natürlich auch Fakes, Desinformation des BND von Überläufern aus der DDR, die der BND umgedreht hat, die er geschult hat und die dann bei Herrn Löwenthal das ausgesagt haben, was man ihm in Pullach vorher aufgetischt hat."

Darauf Gerhard Löwenthal:
"Für mich als Journalist war es wichtig, Quellen zu haben, eine von mehreren Informationsquellen, insbesondere wenn man sich vorstellt, daß sich ja das Buch im Wesentlichen auf die Zeit der Höhepunkte des Kalten Krieges beschäftigt, wo wir alle Hände voll zu tun hatten, uns gegen den äußeren Gegner, gegen die ideologische Unterwanderung der Bundesrepublik zu wehren und aus diesem Grund kann ich das nicht für ehrenlos halten, im Gegenteil, ich halte es für eine staatsbürgerliche Pflicht."


Militärischer Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee:

Andreas Kabus:
Auftrag Windrose. Der militärische Geheimdienst der DDR

Berlin 1993

Klaus Behling:
Der Nachrichtendienst der NVA

Geschichte, Aktionen, Personen

Berlin 2005

Informativ bereits ein älterer Beitrag in einer offiziellen Bundeswehr-Zeitschrift. Der Autor wurde gerade (2005) mit seiner Arbeit über den DDR-Militärgeheimdienst, die derzeit wohl wissenschaftlich bestfundierte Studie zum Thema, zum Doktor promoviert:

Bodo Wegmann:
Den Klassenfeind im Visier
- Der militärische Geheimdienst der DDR,

in: Informationen für die Truppe, Nr. 2/1997, S. 64-69

Hier die Verlagswerbung für die Buchausgabe der Dissertation von Bodo Wegmann:

Der Politikwissenschaftler Bodo Wegmann gewährt faszinierende und detaillierte Einblicke in diesen angeblichen „Supergeheimdienst“. Mehr als 60 Abbildungen dokumentieren die Entwicklung der militärischen Aufklärungsorganisation der DDR, die vor allem als Verwaltung Aufklärung bekannt wurde. Der ihr von der politischen und militärischen Führung zugewiesene Aufgabenrahmen wird ebenso rekonstruiert wie die eingesetzten Mittel und Methoden. Sie reichten von Agenten und Hilfsnetzelementen, über Illegale, Legalisten und Militärattachés bis zur technischen und Satellitenaufklärung. Leitende Offiziere des Zentrums in Ost-Berlin und geheime Quellen im westlichen Operationsgebiet werden porträtiert. Der Leser erfährt vieles über die Kooperation auf internationaler Ebene (bes. im Warschauer Vertrag) und das Verhältnis der NVA-Aufklärung zu Diensteinheiten der Staatssicherheit. Ein besonderes Kapitel schildert Kenntnisse und Maßnahmen gegnerischer Geheimdienste.

Die Arbeit basiert auf umfangreichen Quellen aus öffentlichen Archiven und nicht-öffentlichen Sammlungen, von nationalen und ausländischen Behörden sowie Nachrichtendiensten. Vieles wurde erstmals freigegeben. Darüber hinaus standen dem Autor mehr als 80 Zeitzeugen und Kenntnisträger aus Ost und West zur Verfügung. Aufgrund der Quellenvielfalt und präzisen Darstellungen bezeichnen die Gutachten diese Dissertation, die weniger zum Lesen als zum Nachlesen geeignet ist, als „histoire totale“ und „umfassende Enzyklopädie des militärischen Nachrichtendienstes der DDR“.

 

Reißerisch beschrieben (als der "geheimste Geheimdienst, den die DDR in der Bundesrepublik eingesetzt hatte"), dennoch ein guter Überblick über die NVA-Militäraufklärung.

 

Start in ein besseres Leben, in: Der Spiegel, Nr. 33/1992

Klaus Eichner, Gotthold Schramm (Hg.):
Kundschafter im Westen.
Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich. Mit einem Vorwort von Markus Wolf und Werner Großmann.

Berlin 2003

Darin berichten u.a. die Kundschafter des NVA-Nachrichtendienstes Dieter Görsdorf, Dr. Gerd Löffler, Dieter Popp, Ulrich Steinmann und Heinz Werner. (Rezension...

Fotos + Websites:  
Führungsstelle:
dreietagiger Hochbunker unter Sporthalle (Bilder)
Nach Auflösung der NVA:
Umbau zum Berliner Kreiswehrersatzamt

Ein BRD-Staatsanwalt und Filmkritiker würdigt den NVA-Aufklärungsdienst:

»Kleiner Streifzug durch ein halbes Jahrhundert
Rechts- und Filmgeschichte

[...] Gewiß gab es andere Wege, als das Forum Oberhausen zu vereinnahmen. Mein Freund Dieter Popp wurde Spion. Schon 1956 hatte er nicht verstanden, warum die KPD verboten wurde. Der Antikommunismus des Kalten Krieges war ihm zuwider. In Westberlin hielt er es nicht aus. Nach Oberhausen kam er nicht, wohl aber nach Bonn. Um zu verhindern, daß aus dem Kalten Krieg ein heißer wurde, entschloß er sich, 1968 Aufklärer für die NVA zu werden. Die Verwaltung Aufklärung der Nationalen Volksarmee machte ihn zum Residenten für die Führung der Quelle Egon Streffer im Planungsstab des Bundesministeriums der Verteidigung in Bonn. Egon und Dieter griffen auf Dokumente mit dem Geheimhaltungsgrad "Streng Geheim", "NATO-Secret" und "US Top-Secret" zu. Bis 1989. Zwei Jahre später wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Als Spion, sagt das Gericht. Als Kundschafter des Friedens, sagt er. Nach dem Beitritt wurde Spionage nur dann bestraft, wenn sie für die DDR erfolgte. War sie zu Gunsten Bonns erfolgt, gab es Orden. Was aus der Ungleichbehandlung folgte, ist in dem empfehlenswerten Erinnerungsbuch "Kundschafter im Westen" zu lesen, in dem Dieter Popp einen Beitrag geschrieben hat.
Ich hatte eine andere Karriere eingeschlagen, nachdem ich Ende der fünfziger Jahre mein Ventil in Oberhausen gefunden hatte. Ich wurde Staatsanwalt und verfolgte zwanzig Jahre lang Naziverbrechen. Nach Oberhausen fuhr ich weiter und schrieb über die Westdeutschen Kurzfilmtage.«

Zitiert aus:
Dietrich Kuhlbrodt
in: "Konkret" 10/04


Auch die NVA hatte einen Nachrichtendienst

(aus: Junge Welt vom 25. Juli 1997)

Wenn Dieter Popp abends am Wohnzimmerfenster noch eine Zigarette raucht, blickt er auf einen riesigen, mit Spezialzäunen und Alarmanlagen gesicherten Gebäudekomplex. Irgendwo darin liegt ein Flachbau, der mit den letzten 20 Jahren seines Lebens aufs engste verwoben ist, obwohl er ihn nie betreten hat.

Die kleine Stadt hinter dem Zaun wird nach der Erhebung, auf der sie gebaut wurde, »Hardthöhe« genannt und beherbergt das Bundesverteidigungsministerium. Im besagten Flachbau liegt das Geschäftszimmer des Planungsstabes der Bundeswehr. Über dessen Tische laufen die wichtigsten Papiere für den Verteidigungsminister.

Dieter Popp war sechs Jahre alt, als sein Elternhaus in Berlin-Reinickendorf 1944 ausgebombt wurde. Die Familie mit vier Kindern zog nach Fürstenberg an der Havel. Sein Vater, Kommunist seit 1931 und gelernter Kaufmann, war an der Westfront. Der Großvater, ein Berliner Entwicklungsingenieur, mußte regelmäßig die Arbeit wechseln. Immer dann, wenn die Firma mitbekommen hatte, daß seine Frau »Halbjüdin« war. Popps Urgroßvater, ein Chefchirurg aus Chemnitz, wurde aus dem Operationssaal heraus verhaftet und drei Wochen später in Buchenwald umgebracht. Popps Familie überlebte die Zeit des Faschismus in einer Stadt, in der 96 000 Frauen und Kinder ermordet und verbrannt wurden: Am anderen Ufer ihres am Schwedtsee gelegenen Hauses lag das KZ Ravensbrück.

Den Anblick der ausgemergelten Frauen, die, kahlgeschoren, in Fünferreihen durch die Straßen der Stadt Fürstenberg getrieben wurden, wird Dieter Popp bis heute nicht los. Der Gedanke, daß er in dem See badete, in den die SS-Schergen die Asche der Ermordeten schütten ließ, läßt den nun fast Sechzigjährigen immer noch erschauern.

Kurz vor seiner Verhaftung war Dieter Popp noch mal dort. Gemeinsam mit seinem Führungsoffizier reiste er im Frühjahr 1990, anläßlich seiner offiziellen Verabschiedung aus dem »aktiven Dienst«, durch die DDR. »Die Stasi- Zentralen waren längst gestürmt, und daß bald Kundschafter auffliegen werden, lag in der Luft, aber wir fühlten uns absolut sicher.« Diese Sicherheit war nicht unbegründet. Denn ihre Leitstelle war ein gut abgetarntes und von Bürgerrechtlern unbeachtetes Berliner Grundstück in der Treptower Oberspreestraße. Dieter Popp war nicht Kundschafter der Aufklärung des MfS, sondern des Militärischen Nachrichtendienstes (Mil-ND) der NVA. Und dessen neuer oberster Vorgesetzter, Pfarrer und Verteidigungsminister Rainer Eppelmann, hatte gerade sämtliche Akten und Datenträger des Mil-ND vernichten lassen.

Am 14. Mai 1990, morgens um sieben, war es dann trotzdem soweit. »Als die drei BKA-Beamten vor meiner Tür standen, dachte ich zuerst an eine Drückerkolonne von Bertelsmann, verdammt früh«, erinnert sich der grauhaarige, in legeren Jeans und T-Shirts gekleidete Popp lächelnd. Er hatte nicht mit dem Mitteilungsbedürfnis einiger Kollegen aus Berlin/Ost gerechnet. Dieter Popp, der sich in seinem zweiten Leben zutiefst konspirativ bewegt hatte, wurde am 23. Dezember 1991 ohne einen Schnipsel Belastungsmaterial zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt - allein aufgrund von Verrat.

»Einige Mil-ND-Mitarbeiter«, so Popp bitter, »belasteten mich in der Hauptverhandlung in einer Weise, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, einiges war frei erfunden«. Manchem wurde Straffreiheit zugesichert. Seinerzeit war noch nicht klar, daß NVA-Angehörige mit DDR-Ausweis, die gegen die BRD geheimdienstlich arbeiteten, vergleichsweise wenig zu befürchten hätten. Andere schickten ihre ehemaligen Mitstreiter im Westen schlicht und einfach für ein Kopfgeld in den Kahn. So beispielsweise der Überläufer Eberhard L., der für seine Dienste bei der Verhaftung von Popp und anderen vom Verfassungsschutz ein sechsstelliges Handgeld bekam und eine lebenslange Rente in Höhe von monatlich 3 000 DM bezieht. »Er geht übrigens in Karlshorst täglich mit seinem Hund spazieren - ich wünsche ihm immer schönes Wetter«, brummt Dieter Popp, während er sich die dritte Zigarette dreht.

Angefangen hatte alles in Berlin. Hierhin kehrte Popp 1950 zurück. Anlaß des Umzugs war sein Vater. Der kam 1945 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück nach Fürstenberg. Damit war er, obwohl später Mitbegründer der SED, verdächtig. Während einer der ersten Stalinschen Verhaftungswellen 1948 versteckten seine Eltern einige Wochen eine SPD-Frau. Später erwischte es den Vater, der den Konsum in Neustrelitz aufbaute. Nach wenigen Tagen Haft wurde er zur Verwaltung der Konsum-Genossenschaften im Berliner Columbushaus abgestellt. Als seine neue Verhaftung drohte, war das Maß voll. Die Familie zog mit einem Lastkahn auf der Havel von Neustrelitz nach Berlin- Charlottenburg.

Während der Vater in der Holzhandlung eines Onkels arbeitete, stieg Dieter Popp nach diversen Jobs in die Versicherungsbranche ein, in der er im bürgerlichen Leben bis zu seiner Verhaftung tätig war. Neben der eher drögen Arbeit bei der »Union und Rhein« tauchte Popp in eine schillernde, linke Intellektuellenszene ein. Das KPD-Verbot, die Altnazis an den Unis und in den Talaren der Gerichtssäle, der Vietnam-Krieg und die Wiederaufrüstung der Bundeswehr - wer nur ein wenig politisiert war, wurde in den Strudel der '68er Bewegung gerissen. Der Versicherungsangestellte Popp diskutierte in zahlreichen Zirkeln. Mitte der sechziger Jahre traf er auch Ulrike Meinhof, übrigens bei einem, wie er heute sagt, »eher unschuldigen politischen Kaffeekränzchen eines befreundeten Philologieprofessors in Berlin-Halensee«.

»Asriel«, »Aurikel« und »Genosse Glück«

Während sich andere radikalisierten, suchte und fand der von Natur aus ruhige und zurückhaltende Popp einen anderen Weg, dem System die Stirn zu bieten. Beim Höhepunkt der Studentenbewegung war er schon nicht mehr in Berlin. Am 1. Januar zog Dieter Popp »bei Saukälte« nach Bonn - im Auftrag des Militärischen Nachrichtendienstes der NVA. Seine Wohnung nahm er einige hundert Meter vom Verteidigungsministerium, dem »Hauptobjekt«.

Sein Brot verdiente Popp als Versicherungsangestellter und Anlageberater, die meisten Jahre beim Deutschen Herold. Doch in dieser Branche war es schwer, an die Zentrale bundesdeutscher Militärführung heranzukommen. Anders sein Freund, Egon Streffer, der genauso unspektakulär in einer Autohandlung arbeitete. Er bewarb sich 1970 im Auftrag des Mil-ND bei der Bundeswehr. Ausgestattet mit der Referenz seines Kompanieführers aus Hammelburg, wo er seinen Grundwehrdienst abgeleistet hatte. »Genosse Glück« plazierte den 25jährigen tatsächlich in den Planungsstab, quasi ins Vorzimmer des Ministers.

Von nun an lieferte das Kundschafterpaar Popp und Streffer, unter den internen Decknamen »Asriel« und »Aurikel«, zwei Jahrzehnte lang geheime Dokumente und Einschätzungen nach Ost-Berlin, so die Ausführungen des Vorsitzenden Richters Klaus Wagner vor dem OLG Düsseldorf.

Die Informationsbeschaffung lief im Paar Aurikei/Asriel arbeitsteilig. Egon Streffer, »die Quelle«, beschaffte das Material, Dieter Popp, »der Resident«, war verantwortlich für die Vorauswahl, die Formulierung von Einschätzungen sowie den persönlichen und Funkkontakt mit Ost-Berlin.

Als Bürohilfskraft im Geschäftszimmer des Planungsstabes hatte Streffer Zugang zu beinahe allen Dokumenten von geheimdienstlicher Relevanz. Mehr noch als manch hochgedienter Referent, denn zu seinen Aufgaben gehörte die Registratur, das Kopieren und Verteilen von Unterlagen sowie die Vernichtung nicht mehr benötigter Dokumente. Laut Urteil hatte Streffer Umgang mit Dokumenten bis zum Geheimhaltungsgrad »Streng geheim / NATO-secret / US-top sectet«.

»Ich weiß nicht warum, aber mich hat in den Vernehmungen niemand gefragt, wie Egon die vielen Dokumente herausbekommen hat. Im Urteil steht, er hätte alles unter dem Hemd herausgeschleppt - das haben die sich aber nur zusammengereimt. Wahrscheinlich will es auch niemand so genau wissen.« Das wäre verständlich, denn die Sicherheitskontrollen wurden auf der Hardthöhe überraschend lax gehandhabt.

Aus Rücksicht auf die Kollegen von Egon Streffer möchte Popp nicht alle Schwachstellen im Sicherheitssystem des Planungsstabes aufdecken. Tatsächlich wurden die meisten Dokumente - wie es sich für einen Nachrichtendienstler gehört - in Nachrichtenmagazinen, meist Spiegel oder Stern, auf dem Rücksitz von Streffers Wagen aus der Hardthöhe geschleust. Nur einmal wurde er an der Ausfahrt kontrolliert, offensichtlich sehr oberflächlich.

Mit Phantasie, aber sachlich

Mehr Phantasie brauchte Streffer im Geschäftszimmer selbst. Hier konnte er sich seine perfekten Schreibmaschinen- Kenntnisse und seine technische Auffassungsgabe zunutze machen. Die amerikanische Firma Digital installierte im Planungsstab eine EDV-Anlage.

Streffer und ein Instrukteur waren vorerst die einzigen, die mit dem neuen System umgehen konnten. Er wurde »unentbehrlich«. So wurde beispielsweise eine Datei mit Ministervorlagen aufgebaut. Selbstverständlich druckte Egon Streffer eine Liste aus. »Wir brauchten nur noch das Interessanteste, wie auf einer Menükarte, auswählen.«

Popp setzte sich anschließend über einen Kurier oder direkt mit Ost-Berlin in Verbindung. »Öfter hatten die Kollegen in Treptow - wenn man den Dienstweg berücksichtigt - das Material früher als der Verteidigungsminister«, sagt Dieter Popp nicht ganz ohne Stolz.

Was die Kuriere per Mikrofilm oder aber im DIN-A4-Format nach Ost-Berlin lieferten, wurde dort regelmäßig als »sehr wertvoll« und teilweise »äußerst wertvoll« eingestuft. Das Kundschafterpaar wurde als« Spitzenvorgang« bewertet. Der ehemalige Generalbundesanwalt von Stahl vermutete, daß die beiden zeitweise die Hauptquelle des Mil-ND auf dem Gebiet der Militärpolitik und militärstrategischer Konzeptionen der Bundeswehr gewesen seien. Die laut Urteil gelieferten Dokumente lesen sich wie Militärgeschichte: Minister-Vorlagen und -Gespräche, Planungsunterlagen zu Wintex/Cimex-Übungen nebst entsprechenden Auswertungen, Positionen des Verteidigungsministeriums zu den MBFR- und Salt-II-Verhandlungen, Grundsatzfragen zur Allianz-Politik, deutschlandpolitische Konzeptionen der Bundesregierung, Analysen des Westens zu Tagungen des Warschauer Vertrages, zur Rüstungskontrolle, zur Einführung neuer Waffensysteme, etwa zur Panzerung von Kampfwagen, INF- und SDI-Studien und vieles mehr. Der Ex-Kundschafter resümiert: »Informationen über den realen Entwicklungsstand der Sternenkriegskonzeption waren für die Erhaltung des Kräftegleichgewichtes sicher genauso wichtig wie die Streitkräfteplanung der Bundeswehr. Eine der wichtigsten Erfolge war für uns aber die Übergabe von Positionen der Bundesregierung zu der KSZE-Verhandlungen in Helsinki«.

Auch das Gericht kam in seinem Urteil übrigens zu der Auffassung, daß »zu seinen Gunsten angenommen werden (kann), daß er von der durch seinen Lebensweg beeinflußten Vorstellung bestimmt war, für eine Entspannung zwischen den Blöcken arbeiten zu können.« Daß ihm neben dieser politischen Motivation das Gefühl, etwas mehr zu wissen als der Tagesschau-Konsument, nicht unangenehm war, räumt Popp ein.

Nicht immer ging alles reibungslos. Aber richtig ins Schwitzen kam Popp nur zweimal. Einmal klopfte ein Zöllner am Flughafen Kopenhagen seinen Koffer mit doppeltem Boden ab - sogar von innen. Nachdem der Däne alles für o.k. befunden hatte, packte Popp betont langsam Hemden und Socken wieder ein. Allerdings nicht aus Coolness, sondern um seine schlotternden Knie zu zähmen. Bei einer Zugfahrt, es ging abermals nach Kopenhagen, versagten die doppelseitigen Klebestreifen des Geheimfachs seiner Aktentasche. Und immer, wenn er sich mit der Ladung unter dem Arm bewegte, gab es ein vernehmbares Klack-Klack.

»Es war ohrenbetäubend«, versichert er lachend. »Es war schon verrückt, wie man mit den beiden Identitäten gelebt hat«, sagt Popp nachdenklicher. »Die Konturen waren so überlagert, daß sie zu einer Person verschmolzen. Es war für mich nie Routine, aber es wurde irgendwann Alltag.«

Die »Quelle«, Dieter Popps langjähriger Freund Egon Streffer, starb am 22. August 1989. Zweihundert Soldaten erwiesen ihm das letzte Geleit. Der damalige Chef des Planungsstabes und heutige Innensenator von Berlin, Ex- General Schönbohm, legte für den freundlichen und zurückhaltenden langjährigen Mitarbeiter persönlich einen Kranz nieder. Sogar Verteidigungsminister Stoltenberg schaltete im Bonner Generalanzeiger für seinen Mitarbeiter eine Anzeige voller Lobes, etwas verfrüht, wie der Spiegel später formulierte.

Die Quittung für Dieter Popp: Vier abgesessene Jahre Haft, davon eineinhalb Jahre U-Haft in sechs verschiedenen Knästen; dann vorzeitige Entlassung auf Bewährung.

Dagegen wurden die BND- und NATO-Agenten, die im Osten einsaßen, schon von der Modrow-Regierung entlassen und 1992 rehabilitiert. »Dies ist politisches Strafrecht. Die im Osten sind die Bösen und die im Westen die Guten, das ist letztlich die Argumentation dieser Siegerjustiz«, faßt Dieter Popp zusammen. Mit insgesamt 70 000 DM Verfallstrafe für angeblich erhaltenen Agentenlohn (das entspricht in zwanzig Jahren dem Gegenwert von zwei Schachteln Zigaretten täglich) und 20 000 DM Verfahrenskosten hat die Bundesanwaltschaft zusätzlich dafür gesorgt, daß dem heute im Programm »Arbeit statt Sozialhilfe« bei einem Selbsthilfeverein Tätigen, die künftige Rente bis auf einen Freibetrag von 1 249,- DM gepfändet werden wird.


Pfarrer Eppelmann (CDU), letzter DDR-Verteidigungsminister, über den NVA-Nachrichtendienst:

Eppelmann, jetzt CDU-Bundestagsabgeordneter, war einer der prominentesten Bürgerrechtler der DDR und Leitfigur einer unabhängigen Friedensbewegung dort. Als letzter Verteidigungsminister der DDR verfügte er in Abstimmung mit der BRD-Regierung die Vernichtung der Akten des militärischen Nachrichtendienstes, den er nachfolgend gegenüber dem Bundesjustizminister Frau Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) verteidigt:

Martin Walser: »Ein idealistischer Altachtundsechziger, der dann für die DDR spionierte...«

Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998

Anfang Oktober 1998 schrieb ich Martin Walser, dem ich erstmals 1972, als er mit der DKP sympathisiert hatte, geschrieben hatte, wieder einen Brief. Ich erzählte ihm über meinen Bezug zu seinem in den achtziger Jahren erschienen Buch "Dorle und Wolf", in dem ein Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in der BRD im Geheimen für die DDR nachrichtendienstlich arbeitet, quasi eine Wiedervereinigung im Stillen. In dieser Gestalt erkannte ich mich wieder. Ich schrieb ihm, der in den achtziger Jahren vom juste milieu verachtet worden war, da er den Finger in die Wunde der deutschen Teilung gelegt hatte, mit der er sich nicht abfinden mochte - ihm schrieb ich, wie unsere Wege sich in Frankfurt am Main zu Beginn der achtziger Jahre nochmals gekreuzt hatten, als ich ihn beim dortigen "Stadtschreiberfest" (in Bergen-Enkheim) erstmals in einer großen Rede die ungelöste deutsche Frage explizit behandeln hörte. Auch beschrieb ich ihm, wie im wiedervereinigten Deutschland viele derer, denen das Wohl der Nation wirklich am Herzen gelegen hatte, wozu auch etliche "Spione" der DDR in der BRD gehörten, unter die Räder kamen - während BRD-Politiker, die sich nicht um ihr Geschwätz von gestern kümmerten, wieder triumphierten ("Weiter so, Deutschland", hieß ein Wahlslogan der BRD-CDU im geteilten Deutschland der achtziger Jahre). Wenig später sprach mir Martin Walser wiederum aus den Herzen, und zwar mit seiner nachfolgend dokumentierten, umstrittenen Rede in der Frankfurter Paulskirche:

Als die Medien gemeldet hatten, wer in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen werde, trudelten Glückwünsche herein. Zwei Eigenschaftswörter kamen auffällig oft vor im Glückwunschtext. Die Freude der Gratulierenden wurde öfter »unbändig« genannt. Auf die Rede, die der Ausgesuchte halten werde, hieß es auch öfter, sei man gespannt, sie werde sicher kritisch. Daß mehrere sich unbändig freuen, weil einem anderen etwas Angenehmes geschieht, zeigt, daß unter uns die Freundlichkeitsfähigkeit noch lebt. Darüber, daß von ihm natürlich eine kritische Rede erwartet werde, konnte der Ausgesuchte sich nicht gleichermaßen freuen. Klar, von ihm wurde die Sonntagsrede erwartet. Die kritische Predigt. Irgend jemandem oder gleich allen die Leviten lesen. Diese Rede hast du doch auch schon gehalten. Also halt' sie halt noch einmal, mein Gott. Die Rede, die gespeist wird aus unguten Meldungen, die es immer gibt, die sich, wenn ein bißchen Porenverschluß zu Hilfe kommt, so polemisch schleifen läßt, daß die Medien noch zwei, wenn nicht gar zweieinhalb Tage lang eifrig den Nachhall pflegen.

Der Ausgesuchte kam sich eingeengt vor, festgelegt. Er war nämlich, als er von der Zuerkennung erfuhr, zuerst einmal von einer einfachen Empfindung befallen worden, die, formuliert, etwa hätte heißen können: Er wird fünfundzwanzig oder gar dreißig Minuten lang nur Schönes sagen, das heißt Wohltuendes, Belebendes? Friedenspreismäßiges. Zum Beispiel Bäume rühmen, die er durch absichtsloses Anschauen seit langem kennt. Und gleich der Rechtfertigungszwang: über Bäume zu reden ist kein Verbrechen mehr, weil inzwischen so viele von ihnen krank sind.

Fünfundzwanzig Minuten Schönes -, selbst wenn du das der Sprache abtrotzen oder aus ihr herauszärteln könntest, fünfundzwanzig oder gar dreißig Minuten Schönes -, dann bist du erledigt. Ein Sonntagsrednerpult, Paulskirche, öffentlichste Öffentlichkeit, Medienpräsenz, und dann etwas Schönes! Nein, das war dem für den Preis Ausgesuchten schon ohne alle Hilfe von außen klar geworden, das durfte nicht sein. Aber als er dann so deutlich gesagt kriegte, daß von ihm erwartet werde, die kritische Sonntagsrede zu halten, wehrte sich in ihm die freiheitsdurstige Seele doch noch einmal. Daß ich mein Potpourri des Schönen hätte rechtfertigen müssen, war mir auch klar. Am besten mit solchen Geständnissen: Ich verschließe mich Übeln, an deren Behebung ich nicht mitwirken kann. Ich habe lernen müssen, wegzuschauen. Ich habe mehrere Zufluchtwinkel, in die sich mein Blick sofort flüchtet, wenn mir der Bildschirm die Welt als eine unerträgliche vorführt. Ich finde, meine Reaktion sei verhältnismäßig. Unerträgliches muß ich nicht ertragen können.

Auch im Wegdenken bin ich geübt. Ich käme ohne Wegschauen und Wegdenken nicht durch den Tag und schon gar nicht durch die Nacht. Ich bin auch nicht der Ansicht, daß alles gesühnt werden muß. In einer Welt, in der alles gesühnt werden müßte, könnte ich nicht leben.

Also ist es mir ganz und gar unangenehm, wenn die Zeitung meldet: Ein idealistischer Altachtundsechziger, der dann für die DDR spionierte und durch die von Brüssel nach Ostberlin und Moskau verratenen NATO-Dokumente dazu beigetragen hat, denen im Osten begreiflich zu machen, wie wenig von der NATO ein atomarer Erstschlag zu befürchten sei, dieser idealistisch-sozialistische Weltverbesserer wird nach der Wende zu zwölf Jahren Gefängnis und 100 000 Mark Geldstrafe verurteilt, obwohl das Oberlandesgericht Düsseldorf im Urteil festhält, »daß es ihm auch darum ging, zum Abbau von Vorurteilen und Besorgnissen des Warschauer Paktes die Absichten der NATO transparent zu machen und damit zum Frieden beizutragen ...« Und er habe »auch nicht des Geldes wegen für seine östlichen Auftraggeber gearbeitet«. Wolfgang Schäuble und andere Politiker der CDU haben dafür plädiert, im Einigungsvertrag die Spionage beider Seiten von Verfolgung freizustellen. Trotzdem kam es 1992 zu dem Gesetz, das die Spione des Westens straffrei stellt und finanziell entschädigt, Spione des Ostens aber der Strafverfolgung ausliefert. Vielleicht hätte ich auch von diesem Vorfall wegdenken können, wenn er nicht ziemlich genau dem Fall gliche, den ich noch zur Zeit der Teilung in einer Novelle dargestellt habe. Und man kann als Autor, wenn die Wirklichkeit die Literatur geradezu nachäfft, nicht so tun, als ginge es einen nichts mehr an. Wenn die unselige Teilung noch bestünde, der kalte Krieg noch seinen gefährlichen Unsinn fortfretten dürfte, wäre dieser Gefangene, der als »Meisterspion des Warschauer Paktes im NATO-Hauptquartier in Brüssel« firmiert, längst gegen einen Gleichkarätigen, den sie drüben gefangen hätten, ausgetauscht. Dieser Gefangene büßt also die deutsche Einigung. Resozialisierung kann nicht der Sinn dieser Bestrafung sein, Abschreckung auch nicht. Bleibt nur Sühne. Unser sehr verehrter Herr Bundespräsident hat es ablehnen müssen, diesen Gefangenen zu begnadigen. Und der Bundespräsident ist ein Jurist von hohem Rang. Ich bin Laie. Fünf Jahre von zwölfen sind verbüßt. Wenn schon die juristisch-politischen Macher es nicht wollten, daß 0st und West rechtlich gleichgestellt wären, wahrscheinlich weil das eine nachträgliche Anerkennung des Staates DDR bedeutet hätte - na und?! -, wenn schon das Recht sich als unfähig erweist, die politisch glücklich verlaufene Entwicklung menschlich zu fassen, warum dann nicht Gnade vor Recht? So der Laie.

Also doch die Sonntagsrede der scharfen Darstellung bundesrepublikanischer Justiz widmen'? Aber dann ist die Rede zu Ende, ich gehe essen, schreibe morgen weiter am nächsten Roman und der Spion sühnt und sühnt und sühnt bis ins nächste Jahrtausend. Wenn das nicht peinlich ist, was, bitte, ist dann peinlich'? Aber ist die vorhersehbare Wirkungslosigkeit ein Grund, etwas, was du tun solltest, nicht zu tun? Oder mußt du eine kritische Rede nicht schon deshalb meiden, weil du auf diesen von dir als sinnlos und ungerecht empfundenen Strafvollzugsfall nur zu sprechen kommst, weil du die kritische Sonntagsrede halten sollst? In deinem sonstigen Schreiben würdest du dich nicht mehr mit einem solchen Fall beschäftigen, so peinlich es dir ist, wenn du daran denkst, daß dieser idealistische Mensch sitzt und sitzt und sitzt.

Es gibt die Formel, daß eine bestimmte Art Geistestätigkeit die damit Beschäftigten zu Hütern oder Treuhändern des Gewissens mache; diese Formel finde ich leer, pompös komisch. Gewissen ist nicht delegierbar.

Ich werde andauernd Zeuge des moralisch-politischen Auftritts dieses oder jenes schätzenswerten Intellektuellen und habe selber schon, von unangenehmen Aktualitäten provoziert, derartige Auftritte nicht vermeiden können.

Aber gleich stellt sich eine Bedingung ein, ohne die nichts mehr geht. Nämlich: etwas, was man einem anderen sagt, mindestens genauso zu sich selber sagen. Den Anschein vermeiden, man wisse etwas besser. Oder gar, man sei besser. Stilistisch nicht ganz einfach: kritisch werden und doch glaubwürdig ausdrücken, daß du nicht glaubst, etwas besser zu wissen. Noch schwieriger dürfte es sein, dich in Gewissensfragen einzumischen und doch den Anschein zu vermeiden, du seist oder hieltest dich für besser als die, die du kritisierst.

In jeder Epoche gibt es Themen, Probleme, die unbestreitbar die Gewissensthemen der Epoche sind. Oder dazu gemacht werden. Zwei Belege für die Gewissensproblematik dieser Epoche. Ein wirklich bedeutender Denker formulierte im Jahr 92: »Erst die Reaktionen auf den rechten Terror - die aus der politischen Mitte der Bevölkerung und die von oben: aus der Regierung, dem Staatsapparat und der Führung der Parteien - machen das ganze Ausmaß der moralisch-politischen Verwahrlosung sichtbar.« Ein ebenso bedeutender Dichter ein paar Jahre davor: »Gehen Sie in irgendein Restaurant in Salzburg. Auf den ersten Blick haben Sie den Eindruck: lauter brave Leute. Hören Sie Ihren Tischnachbarn aber zu, entdecken Sie, daß sie nur von Ausrottung und Gaskammern träumen.« Addiert man, was der Denker und der Dichter - beide wirklich gleich seriös - aussagen, dann sind Regierung, Staatsapparat, Parteienführung und die braven Leute am Nebentisch moralisch-politisch« verwahrlost. Meine erste Reaktion, wenn ich Jahr für Jahr solche in beliebiger Zahl zitierbaren Aussagen von ganz und gar seriösen Geistes- und Sprachgrößen lese, ist: Warum bietet sich mir das nicht so dar? Was fehlt meiner Wahrnehmungsfähigkeit? Oder liegt es an meinem zu leicht einzuschläfernden Gewissen? Das ist klar, diese beiden Geistes- und Sprachgrößen sind auch Gewissensgrößen. Anders wäre die Schärfe der Verdächtigung oder schon Beschuldigung nicht zu erklären. Und wenn eine Beschuldigung weit genug geht, ist sie an sich schon schlagend, ein Beweis erübrigt sich da.

Endlich tut sich eine Möglichkeit auf, die Rede kritisch werden zu lassen. Ich hoffe, daß auch selbstkritisch als kritisch gelten darf. Warum werde ich von der Empörung, die dem Denker den folgenden Satzanfang gebietet, nicht mobilisiert: »Wenn die sympathisierende Bevölkerung vor brennenden Asylantenheimen Würstchenbuden aufstellt ...« Das muß man sich vorstellen: die Bevölkerung sympathisiert mit denen, die Asylantenheime angezündet haben, und stellt deshalb Würstchenbuden vor die brennenden Asylantenheime, um auch noch Geschäfte zu machen. Und ich muß zugeben, daß ich mir das, wenn ich es nicht in der intellektuell maßgeblichen Wochenzeitung und unter einem verehrungswürdigen Namen läse, nicht vorstellen könnte. Die tausend edle Meilen von der Bildzeitung entfernte Wochenzeitung tut noch ein übriges, um meiner ungenügenden moralisch-politischen Vorstellungskraft zu helfen; sie macht aus den Wörtern des Denkers fett gedruckte Hervorhebungskästchen, daß man das Wichtigste auch dann zur Kenntnis nehme, wenn man den Aufsatz selber nicht Zeile für Zeile liest. Da sind dann die Wörter des Denkers im Extraschaudruckkästchen so zu besichtigen: »Würstchenbuden vor brennenden Asylantenheimen und symbolische Politik für dumpfe Gemüter.«

Ich kann solche Aussagen nicht bestreiten; dazu sind sowohl der Denker als auch der Dichter zu seriöse Größen. Aber - und das ist offenbar meine moralisch-politische Schwäche - genau so wenig kann ich ihnen zustimmen. Meine nichts als triviale Reaktion auf solche schmerzhaften Sätze: Hoffentlich stimmt's nicht, was uns da so kraß gesagt wird. Es geht sozusagen über meine moralisch-politische Phantasie hinaus, das, was da gesagt wird, für wahr zu halten. Bei mir stellt sich eine unbeweisbare Ahnung ein: Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: Alle Deutschen. Denn das ist schon klar: In keiner anderen Sprache könnte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts so von einem Volk, von einer Bevölkerung, einer Gesellschaft gesprochen werden. Das kann man nur von Deutschen sagen. Allenfalls noch, so weit ich sehe, von Österreichern.

Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, daß die Intellektuellen, die sie uns vorhalten, dadurch, daß sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern. Ich habe es nie für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen. Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muß ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.

Jemand findet die Art, wie wir die Folgen der deutschen Teilung überwinden wollen, nicht gut und sagt, so ermöglichten wir ein neues Auschwitz. Schon die Teilung selbst, solange sie dauerte, wurde von maßgeblichen Intellektuellen gerechtfertigt mit dem Hinweis auf Auschwitz. Oder: Ich stellte das Schicksal einer jüdischen Familie von Landsberg an der Warthe bis Berlin nach genauester Quellenkenntnis dar als einen fünfzig Jahre lang durchgehaltenen Versuch, durch Taufe, Heirat und Leistung dem ostjüdischen Schicksal zu entkommen und Deutsche zu werden, sich ganz und gar zu assimilieren. Ich habe gesagt, wer alles als einen Weg sieht, der nur in Auschwitz enden konnte, der macht aus dem deutschjüdischen Verhältnis eine Schicksalskatastrophe unter gar allen Umständen. Der Intellektuelle, der dafür zuständig war, nannte das eine Verharmlosung von Auschwitz. Ich nehme zu meinen Gunsten an. daß er nicht alle Entwicklungen dieser Familie so studiert haben kann wie ich Auch haben heute lebende Familienmitglieder meine Darstellung bestätigt. Aber: Verharmlosung von Auschwitz. Da ist nur noch ein kleiner Schritt zur sogenannten Auschwitzlüge. Ein smarter Intellektueller hißt im Fernsehen in seinem Gesicht einen Ernst, der in diesem Gesicht wirkt wie eine Fremdsprache, wenn er der Welt als schweres Versagen des Autors mitteilt, daß in des Autors Buch Auschwitz nicht vorkomme. Nie etwas gehört vom Urgesetz des Erzählens: der Perspektivität. Aber selbst wenn, Zeitgeist geht vor Ästhetik.

Bevor man das alles als Rüge des eigenen Gewissensmangels einsteckt, möchte man zurückfragen, warum zum Beispiel, in Goethes »Wilhelm Meister«, der ja erst 1795 zu erscheinen beginnt, die Guillotine nicht vorkommt. Und mir drängt sich, wenn ich mich so moralisch-politisch gerügt sehe, eine Erinnerung auf. Im Jahr 1977 habe ich nicht weit von hier in Bergen-Entheim, eine Rede halten müssen und habe die Gelegenheit damals dazu benutzt, folgendes Geständnis zu machen: »Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte - so schlimm sie zuletzt verlief - in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.« Und: »Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.« Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht, dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?

In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum. Die Monumentalisierung der Schande. Der Historiker Heinrich August Winkler nennt das »negativen Nationalismus«. Daß der, auch wenn er sich tausendmal besser vorkommt, kein bißchen besser ist als sein Gegenteil, wage ich zu vermuten. Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten.

Etwas, was man einem anderen sagt, mindestens genauso zu sich selber sagen. Klingt wie eine Maxime, ist aber nichts als Wunschdenken. Öffentlich von der eigenen Mangelhaftigkeit sprechen'? Unversehens wird auch das Phrase. Daß solche Verläufe schwer zu vermeiden sind, muß mit unserem Gewissen zu tun haben. Wenn ein Denker »das ganze Ausmaß der moralisch-politischen Verwahrlosung« der Regierung, des Staatsapparates und der Führung der Parteien kritisiert, dann ist der Eindruck nicht zu vermeiden, sein Gewissen sei reiner als das der moralisch-politisch Verwahrlosten. Aber wie fühlt sich das an, ein reineres, besseres, ein gutes Gewissen? Ich will mir, um mich vor weiteren Bekenntnispeinlichkeiten zu schützen, von zwei Geistesgrößen helfen lassen, deren Sprachverstand nicht anzuzweifeln ist. Heidegger und Hegel. Heidegger, 1927, »Sein und Zeit«. »Das Gewißwerden des Nichtgetanhabens hat überhaupt nicht den Charakter eines Gewissensphänomens. Im Gegenteil: dieses Gewißwerdens des Nichtgetanhabens kann eher ein Vergessen des Gewissens bedeuten.« Das heißt, weniger genau gesagt: Gutes Gewissen, das ist so wahrnehmbar wie fehlendes Kopfweh. Aber dann heißt es im Gewissensparagraph von »Sein und Zeit«: »Das Schuldigsein gehört zum Dasein selbst.« Ich hoffe nicht, daß das gleich wieder als eine bequeme Entlastungsphrase für zeitgenössische schuldunlustige Finsterlinge verstanden wird. Jetzt Hegel. Hegel in der Rechtsphilosophie: »Das Gewissen, diese tiefste innerliche Einsamkeit mit sich, wo alles Äußerliche und alle Beschränktheit verschwunden ist, diese durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst ...«

Ergebnis der philosophischen Hilfe: Ein gutes Gewissen ist keins. Mit seinem Gewissen ist jeder allein. Öffentliche Gewissensakte sind deshalb in der Gefahr symbolisch zu werden. Und nichts ist dem Gewissen fremder als Symbolik, wie gut sie auch gemeint sei. Diese »durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst« ist nicht repräsentierbar. Sie muß »innerliche Einsamkeit« bleiben. Es kann keiner vom anderen verlangen, was er gern hätte, der aber nicht geben will. Oder kann. Und das ist nicht nur deutsche idealistische Philosophie. In der Literatur, zum Beispiel, Praxis. Bei Kleist. Und jetzt kann ich doch noch etwas Schönes bringen. Herrliche Aktionen bei Kleist, in denen das Gewissen als das schlechthin Persönliche geachtet, wenn nicht sogar gefeiert wird. Der Reitergeneral Prinz von Homburg hat sich in der Schlacht befehlswidrig verhalten, der Kurfürst verurteilt ihn zum Tode, dann, plötzlich: »Er ist begnadigt!« Natalie kann es kaum glauben: »Ihm soll vergeben sein? Er stirbt jetzt nicht?« fragt sie. Und der Kurfürst: »Die höchste Achtung, wie Dir wohl bekannt/ Trag ich im Innersten für sein Gefühl / Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten/Kassier' ich die Artikel; er ist frei!«

Also, es wird ganz vom Gefühl des Verurteilten abhängig gemacht, ob das Todesurteil vollzogen wird. Wenn der Verurteilte das Urteil für ungerecht halten kann, ist er frei.

Das ist Gewissensfreiheit, die ich meine. Das Gewissen, sich selbst überlassen, produziert noch Schein genug. Öffentlich gefordert, regiert nur der Schein. Birgt und verbirgt nicht jeder ein innerstes, auf Selbstachtungsproduktion angelegtes Spiegelkabinett? Ist nicht jeder eine Anstalt zur Lizenzierung der unvereinbarsten Widersprüche'? Ist nicht jeder ein Fließband der unendlichen Lüge-Wahrheit-Dialektik? Nicht jeder ein von Eitelkeiten dirigierter Gewissenskämpfer'? Oder verallgemeinere ich mich jetzt schon zu sehr, um eigener Schwäche Gesellschaft zu verschaffen? Die Frage kann ich doch nicht weglassen: Wäre die Öffentlichkeit ärmer oder gewissensverrohter, wenn Dichter und Denker nicht als Gewissenswarte der Nation aufträten? Beispiele, bitte. In meinem Lieblingsjahrzehnt, 1790 bis 1800, sind Schiller, Fichte, Hegel, Hölderlin Befürworter der Französischen Revolution. Goethe, seit 1776 Weimarer Staatsbeamter, seit 1782 im Adelsstand, macht mit seinem Herzog eine Kriegsreise im antirevolutionären Lager, vor Verdun beobachtet er, heißt es, an kleinen Fischen in einem mit klarem Wasser gefüllten Erdtrichter prismatische Farben. Einen Monat nach dem Ausbruch der Revolution hat er sein zärtlich-innigstes Spiegelbildstück vollendet: den Tasso. Und als er im Jahr 94 Schiller in Jena in der »Naturforschenden Gesellschaft« trifft, wird, heißt es, die Freundschaft endgültig begründet. Und den einen hat es offenbar nicht gestört, daß der andere eine ganz andere Art von Gewissen pflegte als er selber. Wer war nun da das Gewissen des Jahrzehnts? Liegt das jetzt an der Größe dieser beiden, daß eine Freundschaft entstand zwischen zwei wahrhaft verschiedenen Gewissen? Oder gab es damals noch Toleranz?

Ein Fremdwort, das wegen Nichtmehrvorkommens des damit Bezeichneten heute eher entbehrlich ist. Noch so ein Gewissensbeispiel: Thomas Mann. Kurz vor 1918 lehnt er Demokratie ab, sie sei bei uns »landfremd, ein Übersetztes, das ... niemals deutsches Leben und deutsche Wahrheit werden kann ... Politik ... Demokratie ist an und für sich etwas Undeutsches, Widerdeutsches ...« Und 1922, zu Gerhart Hauptmanns Sechzigstem spricht er: »Von deutscher Republik«, und zwar so: »... fast nur um zu beweisen, daß Demokratie, daß Republik Niveau haben, sogar das Niveau der deutschen Romantik haben kann, bin ich auf dieses Podium getreten.« Und blieb auf diesem Podium. Aber vorher war er auch schon zwanzig Jahre lang ein Intellektueller und Schriftsteller, aber, was die öffentliche Meinung angeht, auf der anderen Seite. Aber wer seine Bücher liest von »Buddenbrooks« bis »Zauberberg«, der kriegt von diesem krassen Meinungswechsel so gut wie nichts mit. Dafür aber, behaupte ich, den wirklichen Thomas Mann: Wie er wirklich dachte und empfand; seine Moralität also. teilt sich in seinen Romanen und Erzählungen unwillkürlich und vertrauenswürdiger mit als in den Texten, in denen er politisch-moralisch rechthaben mußte. Oder gar das Gefühl hatte, er müsse sich rechtfertigen.

Das möchte man den Meinungssoldaten entgegenhalten, wenn sie, mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen. Sie haben es immerhin soweit gebracht, daß Schriftsteller nicht mehr gelesen werden müssen, sondern nur noch interviewt. Daß die so zustande kommenden Platzanweisungen in den Büchern dieser Schriftsteller entweder nicht verifizierbar oder kraß widerlegt werden, ist dem Meinungs- und Gewissenswart eher egal, weil das Sprachwerk für ihn nicht verwertbar ist.

Gibt es außer der literarischen Sprache noch eine, die mir nichts verkaufen will? Ich kenne keine. Deshalb: Nichts macht so frei wie die Sprache der Literatur. Siehe Kleist.

Mein Vertrauen in die Sprache hat sich gebildet durch die Erfahrung, daß sie mir hilft, wenn ich nicht glaube, ich wisse etwas schon. Sie hält sich zurück, erwacht sozusagen gar nicht, wenn ich meine etwas schon zu wissen, was ich nur noch mit Hilfe der Sprache formulieren müsse. Ein solches Unternehmen reizt sie nicht. Sie nennt mich dann rechthaberisch. Und bloß, um mir zum Rechthaben zu verhelfen, wacht sie nicht auf. Etwa um eine kritische Rede zu halten, weil es Sonntagvormittag ist und die Welt schlecht und diese Gesellschaft natürlich besonders schlecht und überhaupt alles ohne ein bißchen Beleidigung fade ist; wenn ich ahne, daß es gegen meine Empfindung wäre, mich ein weiteres Mal dieser Predigtersatzfunktion zu fügen, dann liefere ich mich der Sprache aus, überlasse ihr die Zügel, egal, wohin sie mich führe. Letzteres stimmt natürlich nicht. Ich falle ihr in die Zügel, wenn ich fürchten muß, sie gehe zu weit, sie verrate zuviel von mir, sie enthülle meine Unvorzeigbarkeit zu sehr. Da mobilisiere ich furcht- und bedachtsam sprachliche Verbergungsroutinen jeder Art. Als Ziel einer solchen Sonntagsrede schwebt mir allenfalls vor, daß die Zuhörer, wenn ich den letzten Satz gesagt habe, weniger von mir wissen als bei meinem ersten Satz. Der Ehrgeiz des der Sprache vertrauenden Redners darf es sein, daß der Zuhörer oder die Zuhörerin den Redner am Ende der Rede nicht mehr so gut zu kennen glaubt wie davor. Aber eine ganz abenteuerliche Hoffnung kann der Redner dann doch nicht unterdrücken: daß nämlich der Redner dadurch, daß man ihn nicht mehr so klipp und klar kennt wie vor der Rede, eben dadurch dem Zuhörer oder der Zuhörerin vertrauter geworden ist. Es soll einfach gehofft werden dürfen, man könne einem anderen nicht nur dadurch entsprechen, daß man sein Wissen vermehrt, seinen Standpunkt stärkt, sondern, von Sprachmensch zu Sprachmensch, auch dadurch, daß man sein Dasein streift auf eine nicht kalkulierbare, aber vielleicht erlebbare Art. Das ist eine reine Hoffnung.

Jetzt sage ich nur noch: Ach, verehrter Herr Bundespräsident, lassen Sie doch Herrn Rainer Rupp gehen. Um des lieben Friedens willen.